Rotkehlchen
Diethylätherrausch aufgewacht war. Er konnte sehen, wie sich ihr Mund hinter dem Knebel bewegte.
»Hab keine Angst, Signe«, sagte er, beugte sich über sie und befestigte vorne an ihrem Mantel etwas. Sie versuchte den Kopf zu senken, um zu erkennen, was es war, doch er zwang ihren Kopf nach oben.
»Lass uns ein paar Schritte gehen«, sagte er. »Wie früher.«
Er stieg aus dem Auto, öffnete die hintere Tür, zog sie heraus und stieß sie vor sich her. Sie stolperte und fiel neben dem Weg mit den Knien auf den Kies, doch er zerrte an dem Tau, mit dem er ihre Hände auf dem Rücken zusammengebunden hatte, und brachte sie wieder auf die Beine. Er platzierte sie direkt vor einem der Scheinwerfer, mit den Augen zum Licht.
»Bleib hier ganz ruhig stehen, ich habe den Wein vergessen«, sagte er. »Roter Ribeiros, du erinnerst dich doch daran, nicht wahr? Ganz still, sonst …«
Das Licht blendete sie, und er musste ihr die Klinge des Messers unmittelbar vor die Augen halten, damit sie sie sah. Trotz des blendenden Lichts waren ihre Pupillen vollständig geweitet, so dass ihre Augen beinahe schwarz aussahen. Er ging zum Auto zurück und sah sich um. Es war kein Mensch zu sehen. Er lauschte und hörte bloß das gleichmäßige Rauschen der Stadt. Dann öffnete er den Kofferraum. Er schob den schwarzen Müllsack zur Seite und spürte, dass die Hundeleiche darin bereits zu erstarren begann. Es glitzerte matt auf dem Stahl der Märklin-Waffe. Er nahm sie heraus und setzte sich auf den Fahrersitz. Dann kurbelte er die Scheibe halb nach unten und legte die Waffe an. Als er nach oben blickte, konnte er ihren gigantischen Schatten über die graubraunen Wände aus dem sechzehnten Jahrhundert tanzen sehen. Der Schatten musste noch von Nesodden aus sichtbar sein. Sehr schön.
Er startete den Motor mit der rechten Hand und gab Gas. Dann sah er sich noch einmal um, ehe er durch das Zielfernrohr blickte. Der Abstand betrug kaum fünfzig Meter und ihr Mantel erfüllte den gesamten Sichtkreis des Fernrohrs. Er zielte ein klein wenig mehr nach rechts, und das schwarze Kreuz fand, was es suchte – den weißen Zettel. Dann atmete er tief aus und krümmte seinen Finger um den Abzug.
»Herzlich willkommen«, flüsterte er.
TEIL VIII
OFFENBARUNG
Wien, 14. Mai 2000
85 Harry gönnte sich noch drei Extrasekunden, um einfach das kühle Leder der Tyrolean-Air-Sitze im Nacken und an den Unterarmen zu spüren. Dann begann er wieder zu denken.
Unter ihnen lag die Landschaft wie ein zusammenhängender Flickenteppich aus Grün und Gelb. In der Mitte lag die Donau, die wie eine braune eiternde Wunde in der Sonne glitzerte. Die Stewardess hatte gerade angekündigt, dass sie nun den Landeanflug auf Schwechat begännen, und Harry bereitete sich vor.
Er war nie sonderlich gern geflogen, doch in den letzten Jahren hatte er eine richtiggehende Flugangst entwickelt. Ellen hatte ihn einmal gefragt, wovor er Angst habe. »Davor, runterzufallen und zu sterben – wovor sollte man sich sonst fürchten?«, hatte er geantwortet. Sie hatte ihm erzählt, dass die Wahrscheinlichkeit, bei einem einfachen Flug umzukommen, eins zu dreißig Millionen war. Er hatte ihr für diese Information gedankt und gesagt, jetzt habe er keine Angst mehr.
Harry atmete ein und aus und versuchte, nicht auf die wechselnden Motorengeräusche zu hören. Warum wurde die Angst vor dem Tod mit dem Alter schlimmer? Sollte das nicht umgekehrt sein? Signe Juul war neunundsiebzig Jahre alt geworden und hatte vor Angst vermutlich beinahe die Besinnung verloren. Eine der Wachen der Festung Akershus hatte sie gefunden. Sie hatten einen Anruf von einem schlaflosen Bürger aus Aker Brygge erhalten, der ihnen mitteilte, dass einer der Scheinwerfer durchgebrannt sei, und der Wachhabende hatte einen der jungen Kollegen rausgeschickt, das zu überprüfen. Harry hatte ihn zwei Stunden später verhört, und er hatte Harry erzählt, dass er, als er näher gekommen sei, eine leblose Frau auf einem der Scheinwerfer liegen gesehen habe, deren Körper das Licht abschirmte. Zuerst habe er geglaubt, es sei eine Drogensüchtige, doch dann habe er die grauen Haare und die altmodischen Kleider wahrgenommen und erkannt, dass es eine alte Frau war. Sein nächster Gedanke sei gewesen, dass sie vielleicht ohnmächtig geworden war, doch dann hätte er die auf dem Rücken gefesselten Hände bemerkt. Und erst als er direkt bei ihr gewesen sei, habe er das klaffende Loch in ihrem Mantel
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