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Rotkehlchen

Rotkehlchen

Titel: Rotkehlchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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geschehen, während er in Wien gewesen war. Er befand sich bereits eine ganze Weile auf der Karl Johans Gate, als ihm bewusst wurde, was es war: Es war Sommer geworden. Zum ersten Mal im Jahr konnte Harry den Asphalt riechen, die Menschen, die an ihm vorbeigingen, und den Blumenladen in Grensen. Und als er durch den Schlosspark ging, war der Geruch des frisch geschnittenen Grases so stark, dass er lächeln musste. Ein Mann und ein Mädchen in den Arbeitskleidern der Parkpfleger sahen in eine Baumkrone hinauf, diskutierten und schüttelten die Köpfe. Das Mädchen hatte sich das Oberteil des Arbeitsanzugs ausgezogen und um die Hüften gebunden, und Harry bemerkte, dass ihr Kollege verstohlene Blicke auf ihr stramm sitzendes T-Shirt warf, als sie den Kopf in den Nacken legte und nach oben deutete.
    Im Hegdehaugsveien unternahmen die modernen und auch die nicht mehr ganz so modernen Modeboutiquen ihre letzten Anstrengungen, um die Menschen für den bevorstehenden Nationalfeiertag einzukleiden. An den Kiosken wurden Schleifen und Flaggen verkauft, und etwas entfernt hörte er ein Orchester, das einem alten Jägermarsch den letzten Feinschliff verlieh. Es waren Regenschauer gemeldet worden, aber es sollte warm bleiben.
    Harry schwitzte, als er Sindre Fauke anrief und um ein Gespräch bat. Aber Fauke erklärte sich sogleich bereit, ihn zu empfangen. Er freute sich nicht sonderlich auf diesen 17. Mai.
    »Zu viel Tamtam Zu viele Flaggen. Kein Wunder, dass Hitler eine Seelenverwandtschaft mit diesen Nordmännern verspürte, unsere Volksseele ist wirklich ungeheuer nationalistisch. Wir wagen das nur nicht zuzugeben.«
    Er goss Kaffee ein.
    »Gudbrand Johansen war im Lazarett in Wien«, sagte Harry. »In der Nacht bevor er zurück nach Norwegen sollte, tötete er einen Arzt. Danach hat ihn niemand mehr gesehen.«
    »So etwas«, sagte Fauke und schlürfte hörbar seinen glühend heißen Kaffee. »Ich wusste, dass mit diesem Jungen etwas nicht stimmte.«
    »Was können Sie mir über Even Juul sagen?«
    »Viel, wenn es sein muss.«
    »Das muss es wohl.«
    Fauke zog seine Augenbrauen hoch.
    »Sind Sie sicher, dass das keine falsche Fährte ist, Hole?« »Ich bin mir über gar nichts sicher.«
    Fauke blies nachdenklich in seinen Kaffee.
    »Nun gut, wenn es wirklich notwendig ist. Juul und ich hatten eine Beziehung zueinander, die in vielerlei Hinsicht ähnlich war wie die von Gudbrand Johansen und Daniel Gudeson. Ich war Evens Ersatzvater. Das hängt wohl auch damit zusammen, dass er selbst keine Eltern hatte.«
    Harrys Kaffeetasse blieb auf dem Weg zum Mund plötzlich stehen.
    »Das wussten nicht so viele, denn Even erschaffte sich ja seine eigenen Geschichten. Seine erdichtete Kindheit umfasste mehr Personen, Details, Orte und Daten als die tatsächlichen Geschichten der meisten von uns. Die offizielle Version war, dass er in der Juul-Familie auf einem Hof in Grini aufgewachsen war. Doch in Wahrheit hatte er bei verschiedenen Pflegeeltern gelebt und in diversen Heimen im ganzen Land, ehe er schließlich als Zwölfjähriger bei der kinderlosen Juul-Familie landete.«
    »Woher wissen Sie das, wenn er immer die Unwahrheit gesagt hat?«
    »Das ist eine etwas seltsame Geschichte, doch einmal, als Even und ich gemeinsam ein Lager bewachten, das wir im Wald nördlich von Harestua eingerichtet hatten, schien plötzlich etwas mit ihm geschehenzu sein. Even und ich standen uns zu diesem Zeitpunkt nicht sonderlich nahe, und ich war wirklich überrascht, als er mir plötzlich zu erzählen begann, wie er als kleines Kind misshandelt worden ist und dass ihn keiner jemals haben wollte. Er erzählte mir sehr persönliche Details aus seinem Leben und einiges davon war beinahe peinlich. Einige der Erwachsenen, bei denen er gewesen war, hätte man « Fauke schauderte.
    »Lassen Sie uns ein paar Schritte gehen«, schlug er vor. »Draußen soll ein schöner Tag sein, heißt es.«
    Sie gingen über die Vibesgate in den Stenspark, wo sich die ersten Bikinis zur Schau stellten. Ein Sniffer hatte sich aus seinem üblichen Aufenthaltsort oben auf dem Hügel gewagt und sah aus, als hätte er soeben den Planeten Erde entdeckt.
    »Ich weiß nicht, weshalb, aber irgendwie schien Even Juul in dieser Nacht eine andere Person geworden zu sein«, sagte Fauke. »Merkwürdig. Aber noch merkwürdiger war es, dass er am nächsten Tag so tat, als sei nichts geschehen, als hätte er unser Gespräch vergessen.«
    »Sie sagten, Sie hätten einander nicht sonderlich nahe

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