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Rotkehlchen

Rotkehlchen

Titel: Rotkehlchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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Kurven ebenso verworren waren wie das Leben selbst. Doch Daniel lenkte meine Hand und meinen Fuß.
     
    … bemerkte er; dass ich auf seiner Bettkante saß, und sah mich mit ungläubigem Blick an.
    »Was tun Sie hier?«, fragte er.
    »Christopher Brockhard, Sie sind ein Verräter und ich verurteile Sie zum Tode. Sind Sie bereit?«
    Ich glaube, er war es nicht. Die Menschen sind nie bereit zu sterben; sie glauben, sie würden ewig leben. Ich hoffe, er hat noch die Blutfontäne gesehen, die zur Decke spritzte, und gehört, wie sie wieder aufs Bett herunterklatschte. Doch am meisten hoffe ich, dass es ihm bewusst war, dass er sterben würde.
    Im Kleiderschrank fand ich einen Anzug, ein Paar Schuhe und ein Hemd. Ich rollte alles eilig zusammen und klemmte es unter den Arm. Dann rannte ich zum Auto, startete .
     
    … schlief noch immer. Ich war nass und durchgefroren von dem plötzlichen Regen und kroch unter das Laken zu ihr. Sie war warm wie ein Ofen und stöhnte leise, als ich mich an sie presste. Ich versuchte, jeden Zentimeter ihrer Haut mit der meinen zu bedecken, versuchte mir einzubilden, dass dieser Moment ewig währen würde, und tat alles, um nicht auf die Uhr zu sehen. In wenigen Stunden sollte mein Zug abfahren. Und es würde auch nur Stunden dauern, bis man mich in ganz Österreich wegen Mordes suchen würde. Sie wussten nicht, wann ich abreisen wollte oder welche Route ich zu nehmen gedachte, aber sie wussten, wohin ich musste – und sie würden auf mich warten, wenn ich nach Oslo kam. Ich versuchte, Helena fest genug zu halten, damit es ein ganzes Leben vorhielt.
     
    Harry hörte die Klingel. Hatte sie schon öfter geklingelt? Er fand den Drücker und öffnete Weber die Tür.
    »Es gibt nichts, was ich mehr hasse, von den Sportsendungen im Fernsehen mal abgesehen«, fluchte Weber, als er schlecht gelaunt ins Zimmer stampfte und einen Flightcase in der Größe eines Reisekoffers auf den Boden stellte. »17. Mai, das Land im Nationalrausch, verstopfte Straßen, so dass man ums ganze Zentrum herumfahren muss, um irgendwohin zu kommen. Mein Gott! Wo soll ich anfangen?«
    »Ganz sicher findest du ein paar gute Abdrücke auf der Kaffeekanne in der Küche«, sagte Harry. »Ich habe mit einem Kollegen in Wien gesprochen, der in aller Eile versucht, einen Satz Fingerabdrücke von 1944 zu finden. Hast du den Scanner und den PC mit?«
    Weber klopfte auf seinen Flightcase.
    »Gut. Wenn du die Fingerabdrücke eingescannt hast, kannst du mein Handy an den Computer anschließen und sie an die E-Mail-Adresse in Wien schicken, die unter Fritz steht. Er wartet darauf, sie mit den alten Fingerabdrücken zu vergleichen, und wird uns sofort Rückmeldung geben. Das ist im Grunde alles, ich muss noch einige Papiere im Wohnzimmer durchgehen.«
    »Um was geht es …?«
    »PÜD-Sachen«, sagte Harry. »Need-to-know-only.«
    »Ach ja?« Weber biss sich auf die Lippen und sah Harry forschend an. Harry blickte ihm direkt in die Augen und wartete.
    »Weißt du was, Hole?«, sagte er schließlich. »Gut, dass wenigstens noch ein paar bei uns im Haus professionell auftreten.«
     
    Hamburg, 30. Juni 1944
     
    101 Nachdem ich den Brief an Helena geschrieben hatte, öffnete ich die Feldflasche, schüttelte die zusammengerollten Papiere von Sindre Fauke heraus und ersetzte sie durch den Brief Dann ritzte ich mit dem Bajonett ihren Namen und ihre Adresse in die Flasche und ging hinaus in die Nacht. Kaum dass ich vor der Tür war, spürte ich die Hitze. Der Wind zerrte an meiner Uniform, der Himmel über mir war eine schmutzig gelbe Kuppel, und das Einzige, was ich hörte, war das entfernte Brüllen der Flammen, das zersplitternde Glas und die Schreie der Menschen, die keinen Zufluchtsort mehr fanden. Etwa so hatte ich mir die Hölle vorgestellt. Es fielen keine Bomben mehr. Ich ging über eine Straße, die keine Straße mehr war, sondern nur noch ein Streifen Asphalt, der über einen offenen Platz, umsäumt von Bergen von Ruinen, führte. Einzig ein verkohlter Baum stand noch an dieser »Straße« und zeigte mit seinen Hexenfingern in den Himmel Und ein brennendes Haus. Von dort kamen die Schreie. Als ich so nah war, dass die Hitze in meinen Lungen brannte, wenn ich atmete, wandte ich mich um und ging in Richtung Hafen. Dort fand ich es, das kleine Mädchen mit den schwarzen verängstigten Augen. Sie zerrte an meiner Uniformjacke und schrie und schrie aus Leibeskräften.
    »Meine Mutter! Meine Mutter!«
    Ich ging weiter, es gab nichts,

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