Rotkehlchen
nächsten und war sicher, dass wir alle drei sterben würden: ich selbst, Mosken und Dale.
Es ist merkwürdig, aber mein letzter Gedanke war, dass es schon eine Ironie des Schicksals war, dass ich Edvard Mosken eben erst davor gerettet hatte, von dem bedauernswerten Hallgrim Dale erschossen zu werden, doch dass ich damit das Leben unseres Anführers nur um gera de einmal zwei Minuten verlängert hatte. Aber die Russen bauen glück licherweise elende Handgranaten, so dass wir alle drei überlebten. Ich persönlich mit einem verwundeten Bein und einem Granatsplitter in der Stirn, der meinen Helm durchschlagen hatte.
Durch einen merkwürdigen Zufall landete ich in dem Lazarettbereich von Schwester Signe Ålsaker, Daniels Verlobter. Sie erkannte mich zuerst nicht wieder, doch am Nachmittag kam sie an mein Bett und sprach mich auf Norwegisch an. Sie ist sehr hübsch, und ich spürte sofort, dass ich mich mit ihr verloben wollte.
Auch Olaf Lindvig liegt in diesem Saal. Sein weißer Waffenrock hängt an einem Haken neben dem Bett; ich weiß nicht, warum, vielleicht, damit er gleich wieder an die Front gehen und seine Pflicht erfüllen kann, sobald seine Wunden geheilt sind. Männer seines Schlages werden jetzt gebraucht, denn ich kann hören, wie sich das russische Artilleriefeuer nähert. Einmal nachts glaubte ich, er hätte schlecht geträumt, denn er schrie, und daraufhin kam Schwester Signe. Sie gab ihm eine Spritze, vielleicht Morphium. Als er wieder einschlief sah ich, wie sie ihm über die Haare strich. Sie war so hübsch, dass ich sie am liebsten zu mir ans Bett gerufen hätte, um ihr zu sagen, wer ich war; doch ich wollte sie nicht erschrecken.
Heute sagten sie, sie müssten mich nach Westen schicken, denn die Medikamente kämen nicht durch. Niemand sagte das konkret, aber mein Bein eitert, die Russen nähern sich und ich weiß, dass das die einzig mögliche Rettung ist.
Wienerwald, 29. Mai 1944
99 … s chönste und klügste Frau, die ich je in meinem Leben getroffen habe. Kann man zwei Frauen auf einmal lieben? Ja, das kann man bestimmt.
Gudbrand hat sich verändert. Deshalb habe ich Daniels Spitznamen – Urias – angenommen. Helena gefallt er besser; Gudbrand, meint sie, sei ein merkwürdiger Name.
Ich schreibe Gedichte, wenn die anderen eingeschlafen sind, doch ich bin sicher kein großer Poet. Mein Herz schlägt wild, kaum dass sie sich in der Tür zeigt, doch Daniel sagt, man solle sich ruhig verhalten, ja, beinahe kühl, wenn man das Herz einer Frau gewinnen will, dass es so ist wie Fliegen fangen. Man muss ganz still sitzen und am besten in eine andere Richtung sehen. Und dann, wenn die Fliege beginnt; dir Vertrauen zu schenken, wenn sie vor dir auf dem Tisch landet und sich nähert und dich schließlich beinahe anfleht, sie zu fangen – dann musst du rasch wie ein Blitz zuschlagen, sicher und mit festem Glauben. Das ist das Wichtigste. Denn es ist nicht die Geschwindigkeit, sondern der Glaube, mit dem du Fliegen fängst. Du hast nur einen Versuch – und dann muss alles dafür bereit sein. Sagt Daniel.
Wien, 29. Juni 1944
100 … schlief wie ein Kind, als ich mich aus den Armen meiner geliebten Helena befreite. Draußen war der Bombenangriff längst vorüber, doch es war noch mitten in der Nacht, so dass die Straßen menschenleer waren. Ich fand das Auto, wo wir es abgestellt hatten. Neben dem Restaurant »Zu den drei Husaren«. Das Heckfenster war zerborsten und ein Ziegel hatte eine große Delle in das Dach geschlagen, aber ansonsten war es glücklicherweise unversehrt. Ich fuhr so schnell es ging zum Hospital zurück.
Ich wusste, dass es zu spät war, etwas für Helena und mich zu tun; wir waren bloß zwei Menschen inmitten eines Mahlstromes aus Geschehnissen, die wir nicht beeinflussen konnten. Ihre Sorge um ihre Familie verurteilte sie dazu, sich mit diesem Arzt zu vermählen, Christopher Brockhard, diesem korrupten Menschen, der in seiner grenzen losen Ich-Bezogenheit (die er selbst Liebe nannte!) das wahre ICH einer jeden Liebe verletzte. Sah er denn nicht, dass die Liebe, die ihn antrieb, das genaue Gegenteil ihrer Liebe war? Jetzt war es an mir, den Traum, mein Leben gemeinsam mit ihr zu verbringen, zu opfern, um Helena ein Leben zu geben, wenn schon nicht im Glück, so wenigstens im Anstand, frei von der Erniedrigung, zu der Brockhard sie genötigt hätte.
Die Gedanken rasten durch meinen Kopf während ich durch diese Straßen rollte, die mit ihren Windungen und
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