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Rotkehlchen

Rotkehlchen

Titel: Rotkehlchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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mich fallen und rollte mich nach hinten, damit es nicht auf meine Uniform kam. Frische Blutflecke wären verdächtig, falls sie auf die Idee kommen sollten, Sindre Faukes »Desertion« zu untersuchen.
    Als er sich nicht mehr rührte, drehte ich ihn auf den Rücken und zog ihn zu den Munitionskisten, auf denen Daniel lag. Glücklicherweise hatten die beiden einen recht ähnlichen Körperbau. Ich suchte Sindre Faukes Ausweispapiere heraus. Die haben wir immer bei uns, Tag und Nacht, denn wenn man ohne Papiere angehalten wird, aus denen hervorgeht, wer man ist und unter wessen Befehl man steht (Infanterist, Frontabschnitt Nord, Datum, Stempel und so weiter), riskiert man, auf der Stelle als Deserteur erschossen zu werden. Ich rollte Sindres Papiere zusammen und schob sie in die Feldflasche, die ich am Koppel befestigt hatte. Dann zog ich den Sack von Daniels Kopf und band ihn Sindre um. Danach schleppte ich Daniel auf dem Rücken ins Niemandsland. Und dort begrub ich ihn im Schnee, wie Daniel den Russen Urias begraben hatte. Ich behielt Daniels russische Uniformmütze und sang den Psalm »Ein feste Burg ist unser Gott« und dann »Tritt ans Feuer in den Kreis der Kameraden«.
     
    Leningrad, 3. Januar 1943
     
    97 Ein milder Winter. Alles ist nach Plan gelaufen. Früh am Morgen des 1. Januar sind die Leichenträger gekommen und haben, wie befohlen, den Leichnam auf den Munitionskisten abgeholt. Natürlich glaubten sie, es sei Daniel Gudeson, den sie da mit ihrem Schlitten in Richtung Norden abtransportierten. Mir ist noch immer zum Lachen zumute, wenn ich daran denke. Ob sie ihm den Sack abnahmen, ehe sie ihn ins Massengrab legten, weiß ich nicht; das konnte mir aber auch egal sein, die Leichenträger wussten weder, wer Daniel noch wer Sindre Fauke war.
    Das Einzige, was mir Sorgen macht, ist, dass Edvard Mosken irgendwie daran zu zweifeln scheint, dass Fauke desertiert ist, sondern eher glaubt, dass ich ihn getötet haben könnte. Er kann aber nicht viel machen, Sindre Faukes Körper liegt verbrannt und unkenntlich (möge seine Seele ewig brennen) unter Hunderten von anderen.
    Doch heute Nacht, während der Wache, musste ich den bisher dreistesten Schachzug machen. Mir war klar geworden, dass ich Daniel nicht da draußen im Schnee liegen lassen konnte. Bei dem milden Winter war es durchaus möglich, dass die Leiche wieder aus dem Schnee auftauchte und der Austausch entlarvt wurde. Und als ich nachts davon zu träumen begann, was Füchse und Iltisse mit Daniels Leichnam anstellen würden, wenn es Frühling wurde, entschloss ich mich, ihn wieder auszugraben und in eines der Massengräber zu schaffen – diese Erde ist wenigstens vom Feldpriester geweiht worden.
    Ich hatte natürlich mehr Angst vor unseren eigenen Wachposten als vor den Russen; aber glücklicherweise saß Hallgrim Dale, Faukes müder Kumpan, am Maschinengewehr. Außerdem war es in dieser Nacht bewölkt, und – was noch wichtiger war – ich fühlte, dass Daniel irgendwie bei mir war, ja, dass er in mir war. Und als ich den Leichnam endlich auf die Munitionskisten bugsiert hatte und ihm den Sack um den Kopf binden wollte, lächelte er. Ich weiß, dass fehlender Schlaf und Hunger dem Bewusstsein Streiche spielen können, doch ich hatte sein steifes, totes Gesicht unmittelbar vor mir. Und statt dass es mir Angst einjagte, gab es mir Ruhe, es ließ mich heiter werden. Dann schlich ich mich in den Bunker, wo ich wie ein Kind einschlief.
    Als mich Edvard Mosken eine knappe Stunde später weckte, kam es mir vor, als hätte ich das alles nur geträumt, und ich glaube, es gelang mir, aufrichtig überrascht darüber auszusehen, dass Daniels Leiche wieder aufgetaucht war. Doch das reichte nicht, um Mosken zu überzeugen. Er war sich sicher, dass es Fauke war, der dort lag, und dass ich ihn getötet und in der Hoffnung dorthin gelegt hatte, die Leichenträger könnten glauben, sie hätten ihn beim ersten Mal einfach vergessen, und ihn deshalb stillschweigend mitnehmen würden. Als Dale den Sack entfernte und Mosken sah, dass es doch Daniel war, glotzten sie alle beide nur starr vor sich hin, und ich musste mich beherrschen, damit mich dieser neuerliche Grund zum Lachen nicht losprusten ließ und uns entlarvte, Daniel und mich.
     
    Nord-Lazarett, Leningrad, 17. Januar 1944
     
    98 Die Handgranate, die aus dem russischen Flugzeug abgeworfen worden war, traf Dales Helm und drehte sich vor uns auf dem Eis im Kreis, während wir versuchten wegzukommen. Ich lag am

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