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Rotkehlchen

Rotkehlchen

Titel: Rotkehlchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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zusammengehalten von einer Schnur, in der Mitte des leeren Zimmers auf dem Boden lagen.
     
    Wenn du diese Zeilen liest, bin ich hoffentlich tot. Hoffentlich sind wir dann alle tot.
     
    Harry hockte sich neben dem Stapel hin.
    Der große Verrat, stand in Maschinenschrift auf dem obersten Blatt. Die Memoiren eines Soldaten.
    Harry löste die Schnur.
    Nächste Seite: Ich schreibe dies nieder, damit derjenige, der diese Zeilen findet, ein wenig besser versteht, warum ich getan habe, was ich getan habe. Harry blätterte durch den Stapel. Es waren viele hundert Seiten, alle dicht beschrieben. Er sah auf die Uhr. Halb neun. Ersuchte Fritz’ Nummer in Wien in seinem Adressbuch, holte das Handy heraus und erwischte ihn auf dem Rückweg vom Nachtdienst. Nachdem er eine Minute mit Fritz telefoniert hatte, rief Harry die Auskunft an und ließ sich weitervermitteln.
    »Weber.«
    »Hole. Einen schönen Feiertag, oder was sagt man heute?« »Zum Henker mit dir, was willst du?«
    »Nun, du hast dir heute ja wahrscheinlich etwas vorgenommen …«
    »Ja, ich wollte Tür und Fenster geschlossen lassen und Zeitung lesen. Rück schon raus damit.«
    »Ich brauche jemanden, der ein paar Fingerabdrücke nehmen kann.«
    »Okay, wann?«
    »Sofort. Nimm deinen Koffer mit, damit wir von hier aus alles weiterleiten können. Und ich brauche eine Dienstpistole.«
    Harry gab ihm die Adresse. Dann nahm er den Stapel Papiere mit zu einem der wie ein Leichnam verhüllten Stühle, setzte sich und begann zu lesen.
     
    Leningrad, 12. Dezember 1942
     
    95 Feuerschein erleuchtete den grauen Nachthimmel. So sah er aus wie eine schmutzige Zeltplane, die über die trostlose, nackte Landschaft gespannt worden war, die sie von allen Seiten umgab. Vielleicht hatten die Russen eine Offensive gestartet, vielleicht taten sie auch nur so, das wusste man immer erst hinterher. Daniel erwies sich wieder einmal als fantastischer Schütze. Wenn er nicht schon eine Legende gewesen wäre, hätte er sich heute wahre Unsterblichkeit gesichert. Er traf einen Russen, verletzte ihn tödlich aus mehr als einem halben Kilometer Abstand. Dann ging er allein ins Niemandsland hinaus und gab dem Toten eine christliche Beerdigung. So etwas habe ich noch von niemand anderem gehört. Als Trophäe brachte er die Mütze des Russen mit zurück Danach war er wie gewohnt in seinem Element und sang und unterhielt alle (von ein paar Griesgramen einmal abgesehen). Ich bin sehr stolz darauf einen derart außergewöhnlichen, mutigen Menschen als meinen Freund bezeichnen zu dürfen. Auch wenn es manchmal so wirkt, als ob dieser Krieg nie ein Ende nehmen würde und die Opfer für das Land dort zu Hause groß sind, gibt uns ein Mann wie Daniel Gudeson die Hoffnung, die Bolschewiken stoppen zu können und in ein sicheres, freies Norwegen zurückkehren zu dürfen.
     
    Harry sah auf die Uhr und blätterte weiter.
     
    Leningrad, in der Nacht zum I. Januar 1943
     
    96 Als ich bemerkte, wie ängstlich Sindre Fauke aussah, musste ich ihm ein paar beruhigende Worte zuraunen, damit er nicht so wachsam war. Nur wir zwei waren dort draußen auf dem Maschinengewehrposten; die anderen hatten sich schlafen gelegt und Daniels Leiche lag steif auf den Munitionskisten. Dann knibbelte ich weiter Daniels Blut vom Patronengurt. Der Mond schien, doch dabei schneite es, eine wundersame Nacht, und ich dachte, jetzt sammle ich Daniels Reste ein und setze ihn wieder zusammen, damit er wieder auferstehen und uns anführen kann. Sindre Fauke verstand das nicht, er war ein Mitläufer, ein Opportunist und Angeber, der nur dem folgte, den er für den Sieger hielt. Und an diesem Tag, an dem es so schlecht für mic h aussah, für uns , für Daniel, wollte er uns auch noch hintergehen. Ich trat rasch einen Schritt hinter ihn, packte ihn leicht an der Stirn und schwang das Bajonett über seinen Hals. Man muss das mit einem gewissen Tempo machen, um einen glatten, sauberen Schnitt zu bekommen. Ich ließ ihn los, sobald ich geschnitten hatte, denn ich wusste, dass ich mein Werk vollbracht hatte. Er drehte sich langsam um, starrte mich mit kleinen Schweinsaugen an und sah aus, als versuchte er zu schreien; doch das Bajonett hatte die Luftröhre durchtrennt, so dass nur ein zischender Laut entstand, als die Luft durch die klaffende Wunde strömte. Und Blut. Er fasste sich mit beiden Händen an den Hals, um sein Leben festzuhalten, doch das führte nur dazu, dass das Blut in feinen Strahlen durch seine Finger spritzte. Ich ließ

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