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Rotkehlchen

Rotkehlchen

Titel: Rotkehlchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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was ich hätte tun können, ich hatte bereits das Skelett eines Menschen gesehen, der lichterloh brennend in der obersten Etage an einem Fensterrahmen hing. Doch das Mädchen folgte mir immer weiter und flehte mich unablässig an, ich solle ihrer Mutter helfen. Ich versuchte, schneller zu gehen, doch sie umklammerte mich mit ihren Kinderarmen und wollte nicht mehr loslassen, so dass ich sie schließlich mitschleppte in Richtung des großen Flammenmeeres dort unten. Und so gingen wir, ein seltsames Paar, zwei Menschen, verbunden auf dem Weg der Vernichtung.
    Ich weinte, ja, ich weinte, doch die Tränen verdampften ebenso schnell, wie sie kamen. Ich weiß nicht, wer von uns es war, der anhielt und sie auf den Arm nahm, aber ich drehte mich um, trug sie in den Schlafsaal und breitete meine Decke über sie. Dann nahm ich eine Matratze von einem der anderen Betten und legte mich neben sie.
    Ich erfuhr niemals, wie sie hieß oder was mit ihr geschah, denn im Laufe der Nacht verschwand sie. Aber ich weiß, dass sie mir das Leben rettete. Denn ich entschloss mich zu hoffen.
    Ich erwachte in einer sterbenden Stadt. Viele Brände loderten noch hell, der Hafen war vollständig zerstört, und die Versorgungsschiffe sowie diejenigen, die die Verwundeten evakuieren wollten, blieben in der Außenalster liegen, da es keine Stelle gab, an der sie hätten festmachen können.
    Erst gegen Abend hatten die Rettungsmannschaften einen Platz freigeräumt, an der die Schiffe geladen oder gelöscht werden konnten. In aller Eile lief ich hin. Ich ging von Schiff zu Schiff, bis ich fand, was ich suchte – ein Schiff nach Norwegen. Es hieß Anna und sollte mit Zement nach Trondheim fahren. Der Bestimmungshafen passte mir gut, denn ich ging davon aus, dass die Fahndungsunterlagen nicht auch dorthin gesandt worden waren. Chaos war an die Stelle der üblichen deutschen Ordnung getreten und die Kommandolinie war, vorsichtig ausgedrückt, unklar. Das SS-Zeichen auf meinem Uniformkragen schien einen gewissen Eindruck zu machen, und ich hatte keine Probleme, an Bord zu kommen und den Kapitän davon zu überzeugen, dass der Marschbefehl, den ich ihm zeigte, verlangte, mich auf schnellstem Weg nach Oslo zu begeben, und dass das unter den gegebenen Umständen eben bedeutete, mit der Anna nach Trondheim und von dort weiter mit dem Zug zu fahren.
    Die Fahrt dauerte drei Tage, und ich ging an Land, zeigte meine Papiere und wurde sogleich weiterdirigiert. Dann setzte ich mich in den Zug nach Oslo. Die ganze Reise dauerte vier Tage. Ehe ich ausstieg, ging ich auf die Toilette und zog die Sachen an, die ich bei Christopher Brockhard gefunden hatte. Dann war ich bereit für den ersten Test. Ich ging über die Karl Johans Gate, feiner Nieselregen fiel und es war warm. Zwei junge Mädchen kamen mir Arm in Arm entgegen und kicherten, als ich an ihnen vorbeiging. Das Inferno in Hamburg schien mit einem Mal Lichtjahre entfernt zu sein. Mein Herz jubelte. Ich war zurück in meinem geliebten Land, zum zweiten Mal wiedergeboren.
    Der Portier im Continental Hotel studierte die Papiere, die ich ihm gegeben hatte, genau, ehe er mich über seine Brille hinweg ansah: »Willkommen bei uns, Herr Fauke.«
    Und als ich in dem gelben Hotelzimmer auf dem Bett lag und an die Decke starrte, während ich den Geräuschen der Stadt dort draußen lauschte, ließ ich mir unseren neuen Namen auf der Zunge zergehen: Sindre Fauke. Er war ungewohnt, aber mir wurde klar, dass es funktionieren könnte, funktionieren würde.
     
    Nordmarka, 29. Juli 1944
     
    102 … ein Mann mit Namen Even Juul. Wie auch die anderen Heimaffront-Leute scheint er meine Geschichte ganz einfach geschluckt zu haben. Warum sollten sie auch nicht? Die Wahrheit, dass ich nämlich ein wegen Mordes gesuchter Frontkämpfer bin, ist wohl schwerer zu begreifen als die Geschichte des Deserteurs, der via Schweden nach Norwegen gekommen ist. Außerdem haben ihre Informanten meine Aussagen geprüft und bestätigt, dass eine Person mit Namen Sindre Fauke als abgängig gemeldet worden ist und vermutet wird, dass diese Person zu den Russen übergelaufen ist. Die Deutschen haben Ordnung in ihren Sachen!
    Ich spreche keinen sonderlich ausgeprägten Dialekt, wohl eine Folge meiner zeitweiligen Erziehung in Amerika, doch es scheint niemandem aufzufallen, dass ich als Sindre Fauke so schnell meinen Gudbrandsdaldialekt abgelegt habe. Ich stamme aus einem winzigen Nest in Norwegen, doch auch wenn jemand aus meiner Jugend auftauchen

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