Rotkehlchen
den Norweger in Saal 4 wieder gesundzuschreiben.«
»Aha.«
Sie verzog keine Miene, warum sollte sie auch? Die Menschen waren hier, bis sie wieder gesund waren, und dann verschwanden sie wieder. Die Alternative hieß sterben. Das war das Leben in einem Krankenhaus.
»Ich habe den Bescheid vor fünf Tagen an die Wehrmacht weitergeleitet. Wir haben bereits seinen neuen Marschbefehl erhalten.«
»Das ging aber schnell.« Ihre Stimme war fest und ruhig.
»Ja, die suchen verzweifelt Leute. Wir befinden uns im Krieg, wie du weißt.«
»Ja«, sagte sie und verschwieg, was sie dachte: Wir befinden uns im Krieg, und du hockst hier mit deinen zweiundzwanzig Jahren tausend Kilometer von der Front entfernt und machst die Arbeit, die ein Siebzigjähriger tun könnte. Dank Brockhard senior.
»Ich dachte, du könntest ihm diese Nachricht überbringen. Ihr scheint ja gut miteinander auszukommen.«
Sie bemerkte, dass er sie beobachtete.
»Was gefällt dir eigentlich so gut an ihm, Helena? Was unterscheidet ihn von den vierhundert anderen Soldaten, die wir hier im Krankenhaus haben?«
Sie wollte protestieren, doch er kam ihr zuvor.
»Entschuldige, Helena, das geht mich natürlich nichts an. Ich bin nur so neugierig. Ich …«
Er klemmte einen Stift zwischen seine Fingerkuppen und drehte sich zum Fenster.
»… frage mich, was du in so einem ausländischen Glücksritter siehst, der sein eigenes Land verrät, um die Gunst der Sieger zu erlangen. Wenn du begreifst, was ich meine … Wie geht es eigentlich deiner Mutter?«
Helena schluckte, ehe sie antwortete:
»Sie brauchen sich um meine Mutter keine Sorgen zu machen. Geben Sie mir den Marschbefehl, ich werde ihn überbringen.«
Brockhard wandte sich ihr zu. Er nahm einen Brief, der vor ihm auf dem Schreibtisch lag.
»Er soll zur dritten Panzerdivision nach Ungarn. Du weißt, was das heißt.«
Sie runzelte die Stirn. »Dritte Panzerdivision? Er ist freiwilliger Waffen-SS-Mann Was soll er in der regulären Wehrmacht?«
Brockhard zuckte mit den Schultern.
»In diesen Zeiten müssen wir leisten, was wir können, und die Aufgaben erledigen, die uns gestellt werden. Oder bist du anderer Meinung, Helena?«
»Wie meinen Sie das?«
»Er gehört zur Infanterie, nicht wahr? Das heißt, er wird hinter diesen Tanks laufen und nicht in ihnen sitzen. Ein Freund, der in der Ukraine war, hat mir erzählt, dass sie jeden Tag so viele Russen erschießen, dass ihre Maschinengewehre heißlaufen, und dass ganze Berge von Leichen herumliegen, trotzdem aber immer weitere kommen, als würde das kein Ende nehmen.«
Es gelang ihr nur mit Mühe, sich zu beherrschen und Brockhard den Brief nicht aus den Händen zu reißen und zu zerfetzen.
»Eine junge Frau wie du sollte realistisch sein und sich nicht zu sehr an einen Mann binden, den sie aller Wahrscheinlichkeit nach nicht wiedersehen wird. Der Schal steht dir übrigens sehr gut, Helena. Ist das ein Familienstück?«
»Ich bin überrascht und dankbar für Ihr Mitgefühl, Herr Doktor, aber ich versichere Ihnen, dass Ihre Sorge vollkommen unbegründet ist. Ich hege keine besonderen Gefühle für diesen Patienten. Das Mittagessen muss ausgetragen werden, wenn Sie mich also entschuldigen würden …«
»Helena, Helena « Brockhard schüttelte den Kopf und lächelte. »Hältst du mich wirklich für blind? Glaubst du, ich kann leichten Herzens zusehen, welche Sorgen dir das bereitet? Die enge Freundschaft unserer Familien verbindet uns, Helena. Sonst würde ich nicht derart vertraulich mit dir sprechen. Du musst schon entschuldigen, aber du hast sicher bemerkt, dass ich warme Gefühle für dich habe, und …«
»Halt!«
»Was?«
Helena hatte die Tür hinter sich geschlossen und sprach jetzt lauter.
»Ich bin freiwillig hier, Brockhard, ich bin keine von Ihren Krankenschwestern, mit denen Sie Ihre Spielchen treiben können. Geben Sie mir den Brief und sagen Sie mir, was Sie wollen, sonst gehe ich jetzt sofort.«
»Liebe Helena.« Brockhard hatte sein Gesicht in besorgte Falten gelegt. »Begreifst du nicht, dass es deine Entscheidung ist?«
»Meine Entscheidung?«
»Eine Gesundmeldung ist eine sehr subjektive Sache. Besonders wenn es eine solche Kopfverletzung betrifft.«
»Das weiß ich.«
»Ich könnte ihn noch drei Monate krankschreiben, und wer weiß, ob es dann überhaupt noch eine Ostfront gibt?«
Sie sah Brockhard verständnislos an.
»Du liest doch fleißig in der Bibel, Helena. Du kennst die Geschichte von König David, der
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