Rotkehlchen
gemurmelt. Da hatte ihn der Alte gefragt, wo er herkäme. Der Kurier hatte ihm geantwortet, dass seine Eltern aus einem kleinen Ort im Elsass stammten; daraufhin war der Alte auf die Idee gekommen, ihm zu sagen, dass er schon einmal in dieser Gegend gewesen sei, in Sennheim. Eine Idee.
Nachdem er im Internet in der Universitätsbibliothek so viel über diese Märklin-Waffe gelesen hatte, war das eigentliche Gewehr fast eine Enttäuschung gewesen. Es sah aus wie eine gewöhnliche Jagdflinte, nur etwas größer. Der Kurier hatte ihm gezeigt, wie er die Waffe zusammensetzen und auseinander nehmen musste, und ihn »Herr Urias« genannt. Dann hatte der Alte die demontierte Waffe in eine große Schultertasche gelegt und war mit dem Aufzug zur Rezeption hinuntergefahren. Einen Augenblick lang hatte er erwogen, zu Betty Andresen hinüberzugehen und sie zu bitten, ihm ein Taxi zu rufen. Noch eine Idee.
»Hallo!«
Der Alte sah auf.
»Ich glaube, wir sollten auch Ihre Ohren überprüfen.«
Doktor Buer stand in der Türöffnung und hatte ein joviales Lächeln aufgesetzt. Er geleitete ihn in das Untersuchungszimmer. Die Säcke unter den Augen des Arztes schienen noch größer geworden zu sein.
»Ich habe Ihren Namen drei Mal gerufen.«
Ich vergesse meinen Namen, dachte der Alte. Vergesse alle meine Namen.
Der Alte entnahm der helfenden Hand des Doktors, dass dieser schlechte Neuigkeiten hatte.
»Ich habe die Ergebnisse der Tests bekommen, die wir gemacht haben«, sagte er. Schnell, noch ehe er sich richtig hingesetzt hatte. Als wollte er die schlechten Nachrichten so rasch wie möglich hinter sich bringen.
»Es hat sich ausgebreitet.«
»Natürlich hat es sich ausgebreitet«, erwiderte der Alte. »Ist das nicht die Natur der Krebszellen? Sich auszubreiten?«
»Äh… ja, natürlich.« Buer wischte ein unsichtbares Staubkorn vom Schreibtisch.
»Der Krebs ist wie wir«, sagte der Alte. »Tut nur, was er tun muss.«
»Ja«, sagte Doktor Buer. Er sah in seiner zusammengesunkenen Sitzhaltung krampfhaft entspannt aus.
»Sie tun auch nur, was Sie tun müssen, Herr Doktor.«
»Da haben Sie Recht.« Der Arzt lächelte und fasste sich an die Brille. »Wir überlegen noch immer, wie es mit einer Chemotherapie wäre. Das würde Sie natürlich schwächen, aber ihr Leben … äh …« »Verlängern?«
»Ja.«
»Wie viel Zeit bleibt mir noch ohne so eine Therapie?«
Buers Adamsapfel hüpfte auf und ab. »Etwas weniger, als wir zuerst angenommen haben.«
»Und das heißt?«
»Das heißt, dass sich der Krebs von der Leber über die Blutbahn bis zum …«
»Halten Sie den Mund und sagen Sie mir, wie lange.«
Doktor Buer blickte ihn dumpf an.
»Sie hassen diesen Job, nicht wahr?«, fragte der Alte.
»Wie bitte?«
»Nichts. Ein Datum, bitte.«
»Das ist unmöglich vorher …«
Doktor Buer zuckte zusammen, als die Faust des Alten so hart auf die Tischplatte knallte, dass der Hörer vom Telefon rutschte. Er öffnete seinen Mund, um etwas zu sagen, hielt aber inne, als er den zitternden Zeigefinger des Alten sah. Dann seufzte er, nahm seine Brille ab und fuhr sich müde mit der Hand über das Gesicht.
»Sommer. Juni. Vielleicht früher. Maximal August.«
»Gut«, sagte der Alte. »Das reicht gerade. Und die Schmerzen?«
»Können jederzeit anfangen. Sie bekommen Medikamente.« »Werde ich funktionieren?«
»Schwer zu sagen. Das kommt auf die Schmerzen an.«
»Ich brauche Medikamente, die mich funktionieren lassen. Das ist wichtig. Verstehen Sie?«
»Alle schmerzstillenden Mitt …«
»Schmerzen verkrafte ich gut. Ich brauche nur etwas, was mich bei Bewusstsein hält, damit ich denken kann, rational handeln.«
Frohe Weihnachten. Das hatte Doktor Buer als Letztes gesagt. Der Alte stand auf der Treppe. Zuerst hatte er nicht begriffen, warum die Stadt so voller Menschen war, doch nachdem er an das bevorstehende Fest erinnert worden war, sah er die Panik in den Augen der Vorbeihastenden, die auf der Suche nach den letzten Weihnachtsgeschenken waren. Am Egertorget waren die Menschen bei einem Poporchester zusammengelaufen. Ein Mann in der Uniform der Heilsarmee ging mit einer Sammelbüchse herum. Ein Junkie trampelte den Schnee platt, während sein Blick wie die Flamme einer Kerze flatterte, die beinahe ausgeblasen wurde. Zwei Teenager, Freundinnen, gingen Arm in Arm an ihm vorbei. Sie hatten rote Wangen und platzten fast vor Geheimnissen über Jungs und der Erwartung des Lebens, das vor ihnen lag. Und diese Kerzen. In
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