Rotkehlchen
Batseba begehrt, obgleich diese mit einem seiner Soldaten vermählt ist, nicht wahr? So befiehlt er seinen Generälen, diesen Ehemann in die erste Reihe zu stellen, als sie in den Krieg ziehen, damit er stirbt und König David um sie freien kann.«
»Was hat das damit zu tun?«
»Nichts, nichts. Helena. Ich würde nicht auf die Idee kommen, deinen Auserwählten an die Front zu schicken, wenn er nicht gesund genug wäre. Oder irgendjemand anderen. Genau das meine ich. Und da du den Gesundheitszustand dieses Patienten mindestens genauso gut kennst wie ich, dachte ich, dass ich vielleicht auf deinen Rat hören sollte, bevor ich mich endgültig entscheide. Wenn du der Meinung bist, dass er noch nicht gesund genug ist, sollte ich vielleicht eine neuerliche Krankmeldung an die Wehrmacht schicken.«
Es dämmerte ihr langsam.
»Oder, Helena?«
Sie konnte es kaum fassen: Er wollte Urias als Druckmittel einsetzen, um sie zu bekommen. Hatte er das schon lange ausgeheckt? Lief er seit Wochen herum und wartete nur auf den richtigen Zeitpunkt? Und was wollte er eigentlich von ihr? Sie zur Frau oder als Geliebte?
»Nun?«, fragte Brockhard.
Die Gedanken rasten durch ihren Kopf und versuchten einen Weg aus dem Labyrinth zu finden. Doch er hatte alle Wege versperrt. Natürlich. Er war nicht dumm. Solange Brockhard Urias für sie krankschrieb, musste sie alles tun, was Brockhard wollte. Der Marschbefehl wäre nur ausgesetzt. Erst wenn Urias fort war, würde Brockhard keine Macht mehr über sie haben. Macht? Mein Gott, sie kannte diesen Norweger doch kaum. Und sie hatte keine Ahnung, was er für sie empfand.
»Ich …«, begann sie.
»Ja?«
Er hatte sich interessiert nach vorne gebeugt. Sie wollte weiterreden, wollte sagen, was nötig war, um frei zu sein, doch etwas hielt sie zurück Es dauerte eine Sekunde, bis sie begriff, was es war. Es waren die Lügen. Ihre Freiheit wäre eine Lüge, es war eine Lüge, dass sie nicht wusste, was Urias für sie empfand, eine Lüge, dass sich die Menschen immer unterwerfen mussten, um zu überleben, all das stimmte nicht. Sie biss sich auf die Unterlippe, als sie merkte, dass diese zu zittern begann.
Bislett, Silvester 1999
24 Es war halb zwölf, als Harry an der Holbergsgate vor dem Radisson SAS Hotel aus der Straßenbahn stieg und registrierte, dass sich die tief stehende Vormittagssonne einen Augenblick lang in den Fenstern des Schwesternwohnheims des Reichshospitals spiegelte, ehe sie wieder hinter den Wolken verschwand. Er war zum ersten Mal im Büro gewesen. Um aufzuräumen, um sicherzustellen, dass er auch alles mitgenommen hatte. So hatte er es sich selbst jedenfalls eingeredet. Doch seine wenigen persönlichen Sachen hatten in der einen Plastiktüte Platz gefunden, die er tags zuvor von zu Hause mitgenommen hatte. Die Flure waren leer gewesen. Wer keinen Dienst hatte, war zu Hause, um die letzte große Party des Jahrtausends vorzubereiten. Eine Luftschlange hing noch über dem Stuhlrücken und erinnerte ihn an das kleine gestrige Abschiedsfest; dahinter hatte Ellen gestanden, natürlich. Bjarne Møllers nüchterne Abschiedsworte hatten nicht recht zu ihren blauen Ballons und dem kerzengeschmückten Sahnekuchen gepasst. Die kleine Rede war trotzdem nett gewesen. Wahrscheinlich ahnte der Abteilungschef, dass Harry es ihm nie verziehen hätte, wenn er schwülstig oder sentimental geworden wäre. Und Harry musste sich eingestehen, dass er ziemlich stolz gewesen war, als Møller ihm zu seinem Posten als Kommissionsleiter im PÜD gratuliert und ihm Glück gewünscht hatte. Nicht einmal Tom Waalers sarkastisches Grinsen und sein leichtes Kopfschütteln in der hinteren Reihe der Zuschauer an der Tür hatten dieses Gefühl zu zerstören vermocht.
Heute war er wohl bloß ins Büro gegangen, um dort ein letztes Mal zu sitzen, auf dem quietschenden kaputten Bürostuhl in dem Raum, in dem er beinahe sieben Jahre verbracht hatte. Harry schüttelte den Gedanken ab. Gefühlsduselei, war das auch ein Zeichen dafür, dass er begann, alt zu werden?
Harry ging die Holbergsgate hinauf und bog rechts in die Sofiesgate ein. Die meisten Gebäude dieser engen Straße waren Arbeiterhäuser der Jahrhundertwende und nicht besonders gut instand gehalten. Doch nachdem die Immobilienpreise gestiegen waren und die Mittelldassejugend, die nicht das Geld hatte, in Majorstua zu wohnen, hier eingezogen war, hatte das Viertel eine kosmetische Aufwertung erfahren. Jetzt gab es nur noch ein Gebäude,
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