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Rotkehlchen

Rotkehlchen

Titel: Rotkehlchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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jedem verdammten Fenster brannten Kerzen. Er wandte sein Gesicht zum Osloer Himmel, eine warme, gelbliche Kuppel aus reflektiertem Stadtlicht. Mein Gott, wie er sich nach ihr sehnte. Nächstes Weihnachten, dachte er. Nächstes Weihnachten feiern wir gemeinsam, mein Schatz.

 
     
     
     
    TEIL III
     
    URIAS

 
    Rudolph II. Hospital, Wien, 7. Juni 1944
     
    23 Helena Lang ging mit raschen Schritten in Richtung Saal 4 und schob den Rollwagen vor sich her.
    Die Fenster waren geöffnet und sie atmete tief ein, füllte Kopf und Lungen mit dem Duft frisch geschnittenen Grases. Heute lag keine Spur von Zerstörung und Tod in der Luft. Ein Jahr war vergangen, seit Wien das erste Mal bombardiert worden war. In den letzten Wochen waren die Bomben in jeder klaren Nacht gefallen. Obgleich das Rudolph II. Hospital einige Kilometer vom Zentrum entfernt im grünen Wienerwald lag, hatte der Rauch der brennenden Stadt den Duft des Sommers erstickt.
    Helena bog um eine Ecke und lächelte Doktor Brockhard an, der stehen blieb und wohl ein Gespräch beginnen wollte, doch sie ging schnell weiter. Brockhards Augen sahen hinter seiner Brille immer so steif und starr aus; ihr war unbehaglich zumute, wenn sie mit ihm allein war. Manchmal hatte sie den Eindruck, dass sie Brockhard auf dem Flur nicht zufällig begegnete. Ihrer Mutter wäre sicher die Luft weggeblieben, hätte sie gesehen, wie Helena diesem jungen, vielversprechenden Arzt aus dem Wege ging, noch dazu, da Brockhard einer angesehenen Wiener Familie entstammte. Doch Helena mochte weder Brockhard noch dessen Familie oder die Versuche ihrer Mutter, sie selbst als Mittel dafür zu benutzen, wieder Eingang in die gute Gesellschaft zu finden. Die Mutter gab dem Krieg die Schuld für das, was geschehen war. An ihm lag es, dass Helenas Vater, Henrik Lang, seine jüdischen Geldgeber so plötzlich verloren hatte und damit seine anderen Schuldner nicht so schnell wie geplant auszahlen konnte. Aber durch die Finanzkrise hatte er improvisieren müssen und seine jüdischen Bankiers dazu verleitet, ihm die vom Staat beschlagnahmten Schuldverschreibungen zu überschreiben. Und jetzt saß Henrik Lang im Gefängnis, weil er mit dem Staatsfeind, den jüdischen Kräften, konspiriert hatte.
    Im Gegensatz zu ihrer Mutter vermisste Helena ihren Vater mehr als die gesellschaftliche Stellung, die sie gehabt hatten. Die aufwendigen Empfänge, die sie gegeben hatten, fehlten ihr zum Beispiel überhaupt nicht, ebenso wenig die dümmlichen, oberflächlichen Gespräche oder die ständigen Versuche, sie mit einem der reichen, verwöhnten Jüngelchen zu verkuppeln.
    Sie sah auf ihre Armbanduhr und beeilte sich. Ein kleiner Vogel hatte sich durch die offenen Fenster auf den Flur verirrt; doch jetzt hockte er unbekümmert auf einem der Lampenschirme, die von der hohen Decke herabhingen, und sang. Manchmal kam es Helena vollkommen unbegreiflich vor, dass dort draußen ein Krieg tobte. Das lag vielleicht am Wald, an den dichten Reihen der Fichten, die alles, was sie hier oben nicht sehen wollten, fern hielten. Doch betrat man einen der Säle, begriff man sogleich, dass das ein trügerischer Frieden war. Mit ihren zerschundenen Körpern und zerfetzten Seelen brachten die verwundeten Soldaten den Krieg hierher. Zu Beginn hatte sie ihren Geschichten gelauscht; sie hatte fest geglaubt, dass sie mit ihrem Glauben und ihrer Kraft in der Lage sein sollte, ihnen aus ihrer Verzweiflung herauszuhelfen. Doch alle schienen sie die gleichen, alptraumartigen Geschichten zu erzählen, die davon handelten, was ein Mensch hier auf Erden aushalten kann und muss und welche Erniedrigungen es mit sich bringt, einfach nur leben zu wollen. Nur die Toten kamen unbeschadet davon. Schließlich hatte Helena aufgehört, den Soldaten zuzuhören. Sie tat nur so, während sie ihre Verbände wechselte, die Temperatur maß und ihnen die Medizin oder das Essen gab. Und wenn sie schliefen, versuchte sie, sie nicht anzusehen, denn ihre Gesichter erzählten die Geschichten auch noch im Schlaf weiter. Sie konnte das Leiden in bleichen jungen Kindergesichtern erkennen, die Grausamkeit in verbitterten, verschlossenen Gesichtern und die Sehnsucht nach dem Tod in den schmerzverzerrten Zügen des einen Mannes, der soeben erfahren hatte, dass ihm das Bein abgenommen werden musste.
    Trotzdem ging sie heute mit leichten, raschen Schritten. Vielleicht, weil es Sommer war oder weil ihr gerade erst ein Arzt erzählt hatte, wie hübsch sie an diesem Morgen

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