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Rotkehlchen

Rotkehlchen

Titel: Rotkehlchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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aussah. Vielleicht aber auch wegen des norwegischen Patienten in Saal 4, der sie gleich anlächeln und ihr in seinem merkwürdigen, lustigen Deutsch einen »Guten Morgen« wünschen würde. Dann würde er frühstücken und ihr lange Blicke zuwerfen, während sie von Bett zu Bett ging, um die anderen Patienten zu versorgen und jedem einzelnen ein paar aufmunternde Worte zu sagen. Und bei jedem fünften oder sechsten Bett würde sie seinen Blick erwidern und, falls er lächelte, würde sie sein Lächeln erwidern und dann weiterarbeiten, als wäre nichts geschehen. Nichts. Und doch war es so viel. Es waren die Gedanken an diesekleinen Augenblicke, die ihr durch die Tage halfen und ihr die Kraft gaben zu lachen, wenn der vom Feuer entstellte Kapitän Had1er im Bett neben der Tür Witze machte und fragte, ob sie ihm nicht bald seine Genitalien von der Front zurückschicken würden.
    Sie drückte die Schwingtür von Saal 4 auf. Das Sonnenlicht, das in den Raum strahlte, brachte all das Weiß – Wände, Decken und Laken – zum Leuchten. So musste es sein, wenn man ins Paradies kam, dachte sie.
    »Guten Morgen, Helena!«
    Sie lächelte ihn an. Er saß auf einem Stuhl neben seinem Bett und las in einem Buch.
    »Gut geschlafen, Urias?«, fragte sie leicht.
    »Wie ein Bjørn«, antwortete er.
    »Bjørn?«
    »Ja, wie heißen die auf Deutsch – sie schlafen im Winter …« »Ach, ein Bär.«
    »Ja, Bär.«
    Sie lachten beide. Helena wusste, dass sie von den anderen Patienten beobachtet wurden und dass sie bei ihm nicht mehr Zeit verbringen durfte als bei den anderen.
    »Und der Kopf? Es geht jetzt jeden Tag ein bisschen besser, oder?«
    »Ja, es geht immer besser. Irgendwann werde ich wieder genauso schön sein, wie ich einmal war, du wirst schon sehen.«
    Sie erinnerte sich daran, wie er ausgesehen hatte, als sie ihn eingeliefert hatten. Es war absolut unvorstellbar gewesen, dass jemand mit einem derartigen Loch in der Stirn überleben konnte. Sie stieß mit der Teekanne an seinen Becher, so dass dieser fast umgestürzt wäre.
    »Na, na!«, lachte er. »Du warst wohl gestern bis spät in die Nacht tanzen?«
    Sie sah auf. Er zwinkerte ihr zu.
    »Ja«, sagte sie und ärgerte sich sogleich, dass sie gelogen hatte. »Was tanzt ihr hier in Wien?«
    »Ich war gar nicht tanzen, ich bin bloß spät ins Bett gekommen.«
    »Ihr tanzt wohl Walzer, oder? Wiener Walzer.«
    »Ja, stimmt«, sagte sie und konzentrierte sich auf das Thermometer.
    »So«, sagte er und stand auf. Dann begann er zu singen. Die anderen sahen von ihren Betten auf. Er sang in einer unbekannten Sprache, doch mit einer warmen, schönen Stimme. Und die Patienten, denen es am besten ging, feuerten ihn an und lachten, als er mit kleinen, vorsichtigen Walzerschritten neben dem Bett tanzte, so dass sich der Gürtel seines Morgenmantels um ihn schwang.
    »Komm wieder hierher, Urias, sonst schicke ich dich zurück an die Ostfront«, rief sie streng.
    Er machte gehorsam kehrt und setzte sich. Er hieß nicht Urias, doch er hatte darauf bestanden, dass sie ihn so nannten.
    »Kennst du den Rheinländer?«, fragte er.
    »Rheinländer?«
    »Das ist ein Tanz, den wir uns aus dem Rheinland geliehen haben. Soll ich ihn dir zeigen?«
    »Du bleibst hier sitzen, bis du wieder gesund bist!«
    »Und dann gehe ich mit dir nach Wien und zeige dir den Rheinländer.«
    Die Stunden, die er in den letzten Tagen in der Sonne auf der Veranda verbracht hatte, verliehen seiner Haut bereits einen leicht bräunlichen Teint und hoben den Glanz seiner weißen Zähne hervor.
    »Ich finde, du hörst dich bereits gesund genug an, um wieder zurückgeschickt zu werden«, parierte sie, doch sie konnte nichts dagegen tun, dass ihr das Blut in die Wangen geschossen war. Sie stand auf, um ihre Runde zu machen, als sie seine Hand an der ihren spürte.
    »Sag ja«, flüsterte er.
    Sie winkte ihn mit einem hellen Lachen weg und ging zum nächsten Bett, doch ihr Herz sang wie ein kleiner Vogel in ihrer Brust.
     
    »Nun?«, fragte Doktor Brockhard und sah von seinen Papieren auf, als sie in sein Büro kam, und wie gewöhnlich wusste sie nicht, ob dieses Nun eine Frage war oder bloß ein dahingesagtes Wort. Deshalb erwiderte sie nichts und blieb an der Tür stehen.
    »Sie haben nach mir rufen lassen, Herr Doktor?«
    »Warum bestehst du immer auf diesem Sie, Helena?« Brockhard seufzte lächelnd. »Mein Gott, wir kennen uns doch schon von Kind auf.« »Womit kann ich Ihnen dienen?«
    »Ich habe mich entschlossen,

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