Rott sieht Rot
Beobachtungsposten: ein Bettengeschäft mit großer Passage im Eingangsbereich. Darin gab es eine breite Säule, hinter der man sich verbergen konnte. Ich lehnte mich an die Rückseite und versuchte, das Glas der Eingangstür als Spiegel zu nutzen. Ich hatte keine direkte Einsicht zum Brautladen, aber ich würde bemerken, wenn jemand vom Markt her die Straße entlangkam.
Ich nahm mir vor, die Auslagen des Geschäfts zu studieren. Auf der rechten Seite neben dem Eingang zeigte das Schaufenster ein Luxusbett mit elektrischer Höhenverstellung. Ein Schild verkündete, dass es sich beim Inhaber des Ladens und seinen Mitarbeitern um »Schlafexperten« handelte. Vielleicht war es doch nicht so gut, ausgerechnet in dieser Umgebung die Nacht durchzumachen.
Ich wanderte zurück zu den Drahtstühlen, lauschte ein bisschen auf das Geschehen unter der Uhr und war enttäuscht, als ich feststellte, dass nur eine knappe Dreiviertelstunde vergangen war.
Ich ließ mich auf einem der Stühle nieder, hörte auf das Rauschen des Verkehrs hinter den Häusern und erkannte dabei in regelmäßigen Abständen das Brummen eines tiefen Dieselmotors - wahrscheinlich ein Bus. Jede Viertelstunde meldete sich von irgendwoher eine einsame Kirchenglocke.
Über den Geschäften der Fußgängerzone lagen Wohnungen. Hinter manchen Scheiben flimmerten Fernseher. Plötzlich drang die Geräuschkulisse eines Spielfilms mit Musik und Ballerei ganz laut auf die Straße. Offenbar hatte jemand das Fenster geöffnet. Dann rasselte ein Rollladen.
Gegen zwölf verzog ich mich in die Passage und kämpfte mit der Langeweile. Meine Zigarettenschachtel war so leer wie mein Magen. Um halb eins hoffte ich nur noch, dass der Täter jeden Moment auftauchte, damit ich schnell meine Prämie kassieren konnte.
Zum ersten Mal in meinem Leben kam ich ernsthaft auf die Idee, mir eins dieser bescheuerten Spiele zuzulegen, mit denen die Jugend ihre Zeit totschlug, solange sie noch im Überfluss vorhanden war. Ich würde mir einen Gameboy kaufen.
Der Gedanke daran machte mir ein wenig Mut, und ich überlegte, ob man nicht ein nettes Geduldspielchen oder so etwas selbst basteln konnte.
Um zwei Uhr war mein Optimismus wieder geschwunden, und mein Kopf suchte nach Möglichkeiten, die langsam schleichenden Sekunden zu vergessen. Die Zeiteinheiten tropften langsam wie Wasser aus einem gigantischen Aquarium, in dem ich ausharren musste, bis es leer war. Gähnanfälle schüttelten mich. Mir wurde kalt, meine Kleidung fühlte sich klamm an. Meine Füße waren Eisklumpen.
Ich verließ die Passage und wurde von einem kühlen Wind erfasst, der durch die Straße fegte und die Kronen der Bäume aufrauschen ließ.
Ich suchte die Fenster der Wohnungen ab. Als ich sicher war, dass mich niemand beobachtete, rannte ich, so lange ich konnte, die Straße hinunter; dann machte ich kehrt und lief zurück. Das Herzklopfen war gut. Mein Kreislauf kam in Gang. Ich musste durchhalten.
Aus den Augenwinkeln sah ich mein Auto; sofort schoss mir der Gedanke an weiche Sitze und - solange die Batterie es mitmachte - Radiomusik oder Oldies von Mannis Kassetten durch den Kopf. Ich widerstand der Versuchung mit einigen weiteren Sprints.
Ich versuchte, die Blätter an dem Baum vor mir zu zählen. Dann schwenkte ich auf etwas anderes um. Ich löste selbst gestellte Rechenaufgaben.
348 geteilt durch 16. Ich zerbrach mir eine Weile den Kopf und kam auf irgendwas über zwanzig.
587 geteilt durch 27. 21 Komma noch was. Fast dasselbe Ergebnis wie beim ersten Mal. Merkwürdig.
Ich ging hinüber zum Reisebüro, zählte die Kataloge und teilte das Last-Minute-Angebot für einen Mallorcaurlaub, 997 Euro, durch ihre Anzahl, 14. Ich dachte eine Weile nach. Zu schwer.
Ich verzog mich wieder zu dem Bettengeschäft. Die Standuhr zeigte halb drei. Noch viereinhalb Stunden. Nur eine halbe Stunde weniger, als ich schon hier war. So gut rechnen konnte ich noch.
Ich nahm mir vor, dem Drang zu widerstehen, zu den Stühlen zurückzukehren. Es war dort auch zu kalt; direkt im Wind konnte ich nicht sitzen.
Eine neue Idee. Im Auto hatte ich eine Decke. Ich holte sie und legte sie zusammengefaltet vor den Eingang des Bettenladens. Dort setzte ich mich hin und starrte auf die Straße. Die Zeit verging nicht. Alle zwei Minuten sah ich auf meine Armbanduhr.
Als es vier schlug, begann ich mit neuen Rechenaufgaben.
Ich löste keine einzige, denn bevor ich mir überhaupt eine ausgedacht hatte, war ich eingeschlafen.
4.
Weitere Kostenlose Bücher