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Rott sieht Rot

Rott sieht Rot

Titel: Rott sieht Rot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Buslau
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Kapitel
    Ich träumte von einer riesigen Uhr, die in einem Reisebüro stand. Hinter einem Tisch saß Agnes von Rosen-Winkler. Es ging um eine Reise ans Meer. Sie stand auf, um einen Katalog aus dem Regal zu nehmen, und plötzlich entfaltete sich ein ausladendes Brautkleid, das ich vorher gar nicht bemerkt hatte. Wie hatte sie sich in dem Ding hinter den Schreibtisch quetschen können? Ihr Gesicht wurde durch das strahlende Weiß des Kleides blasser, als es ohnehin schon war.
    »Nun buchen Sie endlich die Reise«, sagte sie. »Machen Sie schon. Es ist zu spät.« Sie deutete auf die Uhr. Sie packte mich am Arm, und ein stechender Gestank drang mir in die Nase. Es wurde furchtbar kalt. Der Baronin wuchsen graue Haare und ein Netz aus Falten; ihre Stimme sank zwei Oktaven nach unten. Es war wie in einem billigen Gruselfilm.
    Ein stinkender Penner rüttelte an mir.
    »He, Mann, wach auf, was ist los?«, krächzte er. »Alles in Ordnung mit dir?«
    Ich reckte mich. Das Neonlicht stach mir in die Augen, und der Rücken tat mir weh. Die Schwärze des Himmels schien mit Milch aufgefüllt worden zu sein und war grau geworden. Als ich auf meine Armbanduhr sehen wollte, zuckte es im Schultergelenk.
    »Hier kannst du nicht übernachten«, sagte der Penner. »Du holst dir den Tod.«
    Er setzte sich neben mich. Der Gestank strömte und strömte. Endlich konnte ich auf die Uhr sehen. Es war kurz vor halb sechs.
    Ich sprang auf und rannte hinauf zu Agnes’ Laden. Ein widerliches Gefühl von Taubheit lähmte mein rechtes Bein. Ich riss mich zusammen, trampelte herum, um die Blutzirkulation in Gang zu bringen, und kam schließlich vor dem Geschäft an, das in dem morgendlichen Licht ziemlich trist aussah. Die Scheibe war sauber. Ein Glück.
    Der Mann, der mich geweckt hatte, grinste. Er war in einen dunklen Mantel gehüllt und hatte einen alten grauen Rucksack dabei. Auf seinem runden Kopf trug er eine grob gestrickte Wollmütze, die wahrscheinlich einmal weiß gewesen war.
    »Was ist los? Schlecht geträumt?«
    »Nichts, nichts«, sagte ich und setzte mich neben ihn.
    Er wühlte in dem Rucksack und brachte eine Papiertüte zum Vorschein, aus der er eine Klappstulle zog. »Mal beißen?«, fragte er.
    »Nein danke.«
    Er machte sich über die Stulle her und schnaufte dabei durch die Nase.
    »Was hast du hier gemacht?«, fragte er. »Du siehst nicht so aus, als hättest du keine Wohnung.«
    »Ich habe auf jemanden gewartet«, behauptete ich. Irgendwie stimmte das ja auch.
    »Eine Frau?«
    »Keine Ahnung.« Mir war kalt. Ich rieb über meine Arme und Oberschenkel.
    »Warum bist du eben da raufgerannt?«, wollte er wissen. »Warst du da verabredet?«
    Warum sollte ich ihm nicht sagen, worum es ging? Vielleicht konnte er mir ja sogar helfen.
    »Sind Sie oft hier in der Fußgängerzone?«, fragte ich.
    Er schüttelte den Kopf. »Nee. Nur morgens manchmal. Nachts bin ich in der Lutherstraße.«
    Offenbar ein Obdachlosenasyl, dachte ich. Er mampfte unverdrossen weiter.
    »Ich heiße übrigens Volker«, sagte er mit vollem Mund.
    »Remigius«, stellte ich mich vor. »Oder besser: Remi.«
    Er ließ das halbe Brot wieder in die Tüte gleiten und stopfte sie in den Rucksack. »Freut mich, dich kennen zu lernen.«
    »Ich passe auf den Laden da drüben auf«, erklärte ich. »Der wurde mehrmals mit Farbe voll geschmiert.«
    »Hab ich gesehen«, sagte er. »Ziemliche Schweinerei.«
    »Weißt du irgendetwas darüber?«
    Er sah mich prüfend an. »Bist du vielleicht ein Bulle?«
    Ich schüttelte den Kopf. »Ich mache das privat. Die Besitzerin hat mich beauftragt. Wenn die gekommen wäre, während ich schlief, hätte es Ärger gegeben.«
    Er winkte ab. »Ist ja nichts passiert.«
    Er zog die Mütze vom Kopf. Wirre graue Haare kamen zum Vorschein. Er kratzte sich ausgiebig.
    »Danke, dass du mich geweckt hast«, sagte ich.
    »Keine Ursache.«
    Ich zog meine Geldbörse heraus und suchte ein bisschen Kleingeld zusammen.
    »He, was wird das denn?«, fuhr er auf. »Hab ich dich vielleicht angebettelt, oder was?«
    »Nein. Aber du hast mir einen Gefallen getan. Und vielleicht kannst du ja ein bisschen die Augen offen halten.«
    »Gefallen ist okay. Augen offen halten geht nicht. Die Geschäftsleute haben es nicht gern, wenn sich unsereins hier herumtreibt. Muss ja auch nicht sein. Ist einzusehen. Und überhaupt: Nur ein Blödmann würde in diesem Durchzug die Nacht verbringen. Man kann sich zumindest oben im Allee-Center noch eine Weile aufwärmen, wenn

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