Rott sieht Rot
Vorschulkindern ausweichen, die die abschüssige schmale Straße als Rollschuhbahn gebrauchten.
Die Orientierung war schwierig. Dreimal fand ich mich in einer Sackgasse wieder und musste zwischen Mülltonnenkästen, Zäunen und parkenden Autos wenden. Hinzu kam, dass einfallsreiche Stadtplaner die Namensgebung der Straßen rationalisiert hatten. Es gab einen Arnika-, einen Veilchen-, einen Lilien-, einen Schlüsselblumen-, Fingerhut-, Maiglöckchen-, Orchideen-, Heckenrosen-, Goldnessel-, Anemonen-, Kornblumen-, Akelei- und Glockenblumenweg. Als ich auf den Thymianweg stieß, schrillte eine Alarmglocke. Das war ein Fall für Günther Jauch: Welche der folgenden Pflanzen ist keine Blume, sondern ein Gewürz?
Dann bog ich endlich in den Margeritenweg ein.
Das Haus war älter als die anderen. Der Putz war nachgedunkelt; die Bäume im Vorgarten reichten schon über die Höhe der Dachrinne hinaus. Neben dem Eingang gab es eine Klingel ohne Beschriftung; darunter eine matt glänzende Briefkastenklappe, auf der in verwitterten Buchstaben der Name der Firma stand. Ich hatte mir von der großen weiten Welt des Schallplattengeschäfts immer ein anderes Bild gemacht.
Ich klingelte. Ein Summer ertönte, und ich öffnete die Tür. Ich gelangte in einen muffigen Flur, von dem ein größeres Zimmer abging. Der Architekt, der das Gebäude einst als Wohnhaus konzipiert hatte, dürfte sich diesen Raum als Wohnzimmer vorgestellt haben. Jetzt war er ein Büro.
Eine ältere Blondine in weißer Bluse residierte hinter einem Schreibtisch, umgeben von Schrankwänden mit Aktenordnern und einem Bäumchen im Topf. Als ich hereinkam, stand sie auf. »Sie sind sicher Herr Rott«, sagte sie.
Ich grüßte höflich, und sie bat mich, ihr zu folgen. Es ging wieder in den Flur, dann die Treppe in den Keller hinunter. Sie öffnete eine schwarz gestrichene Tür, die zu einem Aufnahmestudio führte. Ich musste den Kopf einziehen, so niedrig war der Raum. Wir umrundeten ein paar Notenständer und einen wuchtigen Flügel. Hinter einer Abtrennscheibe saßen zwei Männer an einem breiten Mischpult; ich sah Massen von Reglern und Knöpfen.
Die blonde Frau gab mir das Zeichen, dass es weiterging. Sie deutete auf die offene Tür, die zu dem Regieraum führte, und bedeutete mir, mich auf einen Stuhl in der Ecke zu setzen. Dann verschwand sie.
»Mehr Betonung«, sagte einer der beiden Männer in ein Mikrofon. Er hatte dunkle, lockige Haare, die bis auf die Schultern reichten, und war schlecht rasiert. Auf seinem schwarzen T-Shirt war ein riesiges weißes Kreuz zu sehen, darunter der Schriftzug »We want Jesus«. Er und sein Kollege nahmen keine Notiz von mir.
»Wie meinst du das - mehr Betonung?«, fragte eine andere Stimme, und ich sah, dass hinter der Scheibe eine dunkelhaarige Frau mit einem Kopfhörer stand, vor sich ein helles Notenblatt auf einem Pult.
»Es heißt: ›Meine Schuld‹. Und da musst du ›Schuld‹ betonen. Wenn es dann weitergeht, darfst du nicht so sehr auf das Wort ›Huld‹ gehen, sondern musst auch ›deine‹ hervorheben. ›Huld‹ wird sowieso betont - die Note ist ja lang. Verstehst du?«
Die Frau nickte. »Alles klar«, sagte sie und kritzelte mit einem Stift in den Noten herum.
»Versuchen wir’s noch mal«, sagte der Mann. »Achtung.«
Plötzlich strichen tausend Geigen, was das Zeug hielt, und stimmten die Melodie von »Yesterday« an. Dann setzte die Frau am Notenpult ein. Die Stimme war gut. Nur der Text zog mir die Schuhe aus.
»Meine Schuld … Wird zerstört durch deine Huld … denn deine Huld wird ewig sein, ganz allein, ganz allein durch meine Schuld …«
Die Streicher schickten noch kurz ihren Weichspüler durch die Boxen, das Ganze steigerte sich in sinfonische Dimensionen; dann brach die Musik ab.
»Gestorben«, rief der Mann. »Nächste Nummer. Machen wir doch noch eben ›Christus ist allein die Liebe‹ fertig.«
»Geht klar«, sagte die Frau. »Ich muss nur schnell die Noten sortieren.«
Der Mann wechselte leise ein paar Worte mit dem anderen, der das Mischpult bediente. Dann drehte er sich zu mir und tat, als hätte er mich gerade erst bemerkt.
»Gregor«, stellte er sich vor. »Und Sie sind Herr …«
»Rott«, sagte ich. »Ich habe heute Morgen angerufen …«
»Mag sein, mag sein«, wehrte er ab. »Sehen Sie, wir haben eine Menge zu tun. Ich habe nicht viel Zeit. Ich würde gern noch eine Sache zu Ende bringen, wenn es Ihnen recht ist. Dauert nur fünf Minuten.«
Ich nickte. Was blieb
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