Rott sieht Rot
mir übrig?
Er wandte sich wieder an die Sängerin. »Fertig? Du kriegst noch das Vorspiel.«
Sie nickte. »Perfekt, Charly. Leg los.«
»Und Action«, befahl er wie ein Filmregisseur. Die Musik begann - wieder in einem Monumentalsound, als hätte sich Beethoven in die Disco verirrt. Ich kannte die Melodie, doch mir fiel nicht ein, was es war. Erst beim Refrain hätte ich glatt mitsingen können. Es war »Wunder gibt es immer wieder« - der alte Hit von Katja Epstein, den Gildo Horn neu aufgenommen hatte. Gregors Version lautete allerdings etwas anders. Statt »Wunder gibt es immer wieder« hieß es »Christus ist allein die Liebe«, statt »heute oder morgen« sang die Frau »ist für uns gestorben«, und statt »werden sie gescheh’n« lautete der Text »immer allezeit«. Dann von vorn: »Christus ist allein die Liebe, heute oder morgen, in der Seligkeit…«
»Stopp«, rief Gregor plötzlich, und es trat Stille ein. »Das gefällt mir nicht. ›In der Seligkeit« - das ist nicht gut. Da muss es doch was anderes geben.«
»Ich find’s okay«, sagte die Frau draußen.
»Nimm doch ›sind wir alle breit‹«, meldete sich zum ersten Mal der Mann am Mischpult zu Wort und brach in brüllendes Gelächter aus.
Gregor lachte nicht mit, sondern holte ein kleines gelbes Buch aus einer Schublade. Ich las die Aufschrift »Reclams Reimlexikon«.
»Was reimt sich auf ›allezeit‹«, überlegte Gregor laut. »Männlichkeit…«
»Passt prima«, sagte der andere und grinste.
»Heiterkeit«, las Gregor und blickte eine Weile nachdenklich zur Decke wie ein Dichter, der auf Inspiration wartet. Die Frau hinter der Scheibe gähnte.
»Ich hab’s«, rief der Chef. »Ewigkeit. Das ist immer gut. Sandra, hör zu. Du singst jetzt ›in der Ewigkeit«. Klar?«
»Sag mir noch mal den ganzen Text«, bat die Sängerin und zückte wieder den Stift.
»Von vorn müsste der Refrain so lauten: ›Christus ist allein die Liebe, ist für uns gestorben, immer allezeit…‹ - nein: ›für uns allezeit«. So ist es besser.«
»Also wie jetzt?«, fragte die Frau und runzelte die Stirn.
»›Christus ist allein die Liebe‹«, wiederholte Gregor geduldig, »›ist für uns gestorben, für uns allezeit …‹ Und jetzt wieder anders, geniale Idee: ›Christus ist für uns das Leben, wird sie uns einst geben …‹ Und weiter?«
»Ewigkeit«, sagte der Mann in die Stille, in der Gregor nach künstlerischer Erleuchtung suchte.
»Quatsch, das geht mit dem Versmaß nicht. Anders. ›Wird sie uns einst geben …‹ Genau, jetzt hab ich’s: ›für alle Ewigkeit«. Punkt. Hast du’s, Sandra?«
Die Frau schrieb etwas hin und lächelte dann durch die Scheibe. »Mensch, Charly, du bist ein Genie.«
»Du sagst es, Schätzchen.« Er schmiss das Buch wieder in die Schublade. »Los jetzt. Aufnahme.«
Das Gedudel begann wieder, die Frau sang, was Gregor im Schnellverfahren gedichtet hatte: »Christus ist allein die Liebe, ist für uns gestorben, immer allezeit … Christus ist für uns das Leben, wird sie uns einst geben, für alle Ewigkeit…«
Kaum hatte sie die Zeilen gesungen, stoppte der Mann am Mischpult wieder das Band.
»Fertig«, rief der Chef. »Den Rest schneidest du zusammen. Zehn Minuten Pause.« Er klatschte in die Hände, als gelte es, ein ganzes Orchester auf die Unterbrechung aufmerksam zu machen.
Der Mann vom Mischpult zwängte sich an mir vorbei zur Tür hinaus; als er meinen Stuhl streifte, bemerkte ich Schweißgeruch. Er verließ mit der Sängerin den Raum.
Gregor wandte sich mir zu. »So, Herr Rott, das war wichtig. Wenn man eine kreative Phase hat, sollte man nicht unterbrechen. Jetzt habe ich Zeit. Was kann ich für Sie tun?«
»Was für eine Art Musik machen Sie hier?«, fragte ich.
»Sakro-Pop. Coverversionen bekannter Klassiker.« Er holte eine Schachtel Zigaretten aus der Hosentasche und steckte sich eine an. »Entschuldigung, wollen Sie auch eine?« Er hielt mir die Marlboros hin. Ich griff zu.
»Und wo wird solche Musik gespielt? Im Radio doch wohl kaum.«
Er lächelte. »Vielleicht nicht auf den Sendern, die Sie hören. Es gibt aber viele Stationen, die sich darauf spezialisiert haben. Nicht nur in Deutschland. Auch in der Schweiz und in Österreich. Und die CDs und Kassetten, die wir produzieren, verkaufen sich bei Veranstaltungen. Auf den Kirchentagen zum Beispiel. Gefällt es Ihnen?«
Ich lenkte diplomatisch ab. »Ich bin eigentlich wegen etwas anderem gekommen.«
Er nickte »Wegen Tristan. Das hat
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