Rott sieht Rot
schluckte. »Ich fürchte, ja.«
»Was heißt, ich fürchte?«
»Kann ich jetzt nicht erklären. Danke für die Hilfe. Bis dann.«
Ich drückte den Knopf am Telefon und konzentrierte mich auf die Frau auf dem Bild. Die ovale Gesichtsform. Der leicht blasierte Ausdruck. Die Frau war natürlich Jahre jünger als heute. Und ihre Haarfarbe war anders. Sie war heute dunkler. Auch wenn ich mir nicht ganz erklären konnte, wie alles zusammenhing, war eines klar: Die eingekringelte Person sah aus wie die Baronin. Petra Ziebold war Agnes von Rosen-Winkler.
Oder umgekehrt.
*
Ich rannte aus der Wohnung und stieß gegen den Typen in Jogginghosen, der offenbar die ganze Zeit auf dem Flur gestanden hatte.
»Wie heißen Sie?«, fragte ich.
»Wieso? Ich …«
»Klappe halten. Wie Sie heißen, will ich wissen.«
»Siegfried Mayer.«
»Gut, Herr Mayer. Sie passen auf die Wohnung auf und lassen niemanden hinein, bis die Kollegen kommen.«
Er nickte.
»Und Sie selbst bleiben auch hübsch draußen, klar?«
»Verstanden.« Fast hätte er die Hacken zusammengeschlagen.
Ich stürmte die Treppe hinunter, raste zum Auto und fuhr los. Gleichzeitig versuchte ich, die Mosaiksteinchen in meinem Hirn zusammenzusetzen. Während ich durch die Stockder Straße kurvte, bildete sich eine Erkenntnis nach der anderen.
Nummer eins. Wenn Petra Ziebold die Baronin war, dann hatte die Baronin auch Petra Ziebolds kriminelle Vergangenheit. Mutter Prostituierte und Säuferin, Arbeit im Kosmetikladen, Diebstahl, Raubzüge zusammen mit Reinsdorf, der Coup gegen Sülzbach und dann untertauchen, um die Beute allein zu haben.
Erkenntnis Nummer zwei. Tristan hatte genau die Betrügerin geheiratet, die ihn damals als Porscheverkäufer übers Ohr gehauen hat. Vielleicht ein Riesenzufall, vielleicht auch nicht. Egal. Jedenfalls hatte sie ein neues Leben angefangen. Ihr Äußeres verändert, mit dem Geld ihr Brautmodengeschäft eröffnet.
Erkenntnis Nummer drei. Tristan war Reinsdorf auf die Schliche gekommen. Hatte er vielleicht auch die wahre Identität der Baronin herausgefunden? Wenn ja: Wen setzte das unter Druck? Wer hatte ein Interesse daran, dass Tristan verschwand? Und wer konnte sich wunderbar rein waschen - als schuldlose, verlassene Braut?
»Dreimal darfst du raten, Rott«, sagte ich laut, während ich am Kreisverkehr in die Bismarckstraße einbog. »Und du kannst gleich mitraten, wen Svetlana mit deiner Pistole erschießen will. Wenn sie das alles ebenfalls herausgefunden hat.«
Und das hatte sie!
*
Ich stellte den Wagen in einer der Seitenstraßen am Markt ab und hastete, so schnell ich konnte, zur evangelischen Stadtkirche - Remscheids Wahrzeichen am unteren Anfang der Fußgängerzone.
Die Gegend, die ich von meinen nächtlichen Bewachungen als ziemlich öde in Erinnerung hatte, hatte sich verändert. Schon von weitem hörte ich die Glocken der Kirche - Hochzeitsglocken, wie sie einer Baronin angemessen waren. Als ich den Markt erreichte, stand ich vor einer Wand von Menschen. Ich drängelte mich an dem bunten, kreisrunden Brunnen vorbei, der die Verbindung zwischen Markt und Kirche zierte, und gelangte von den zufällig dastehenden und glotzenden Passanten langsam in den Kern der eigentlichen Hochzeitsgesellschaft.
Alles hatte sich vor der Kirchentür versammelt, alles war in schickem Outfit. Das Szenario hätte aus der »Gala« oder aus der »Bunten« sein können. Mindestens achtzig Personen waren anwesend. Ich sah Jutta in einem cremefarbenen Hosenanzug und Hut; sie hätte Marlene Dietrich Konkurrenz machen können. Sie redete gerade mit einem weißhaarigen Herrn in schwarzem Anzug, der beifällig nickte. Daneben erkannte ich Sülzbachs Mutter, die neben der Baronin stand; die Braut trug ein Hochzeitskleid wie aus dem Bilderbuch. Das Weiß blendete im Sonnenlicht. Hinter ihr glitzerte etwas golden. Es war eine Trompete, die ein älterer Herr im Frack in der Hand hielt. Offenbar waren Fanfaren geplant.
Man war in Warteposition und hatte sich in kleine Grüppchen verteilt. Es war, wie ich es mir schon mehrmals ausgemalt hatte. Sülzbach war nicht da. Die Hochzeit platzte gerade. Aber sie platzte nicht auf einen Schlag, sondern es entwich nach und nach die Luft - wie bei einem labbrig aufgeblasenen Ballon.
In der Seitenstraße neben der Kirche stand ein riesiger weißer Mercedes. Neben der offenen Tür wartete ein livrierter Fahrer und starrte Löcher in die Luft. Offensichtlich war das Gefährt dafür vorgesehen, das Brautpaar
Weitere Kostenlose Bücher