Rott sieht Rot
wir?«, fragte sie.
»Ich bringe dich nach Hause. Jetzt aber endgültig.«
*
Ich gelangte auf die Schnellstraße, die an der Wupper entlang nach Süden führte. Am Anfang ignorierte ich die Geschwindigkeitsbeschränkung; dann fiel mir ein, dass wir es ja gar nicht mehr eilig hatten. Zwischendurch warf ich einen Blick auf die Anzeige der Tankfüllung. Die Nadel hing dramatisch im roten Bereich, und so steuerte ich die erstbeste Tankstelle an.
Während Liter um Liter Diesel in den Golf gepumpt wurde und die Zahlen der Digitalanzeige dahinrasten, beobachtete ich Svetlana, die im Wagen saß und stur geradeaus blickte.
Ich konnte sie nur von hinten sehen, aber das genügte mir schon. Mit Sülzbach war sie durch - umso besser. Der Einfüllstutzen klackte, der Tank war voll, und während ich den Deckel zuschloss, nahm ich mir vor, mich ein bisschen um Svetlana zu kümmern. Ich wollte sofort damit anfangen. Was gestern Abend nicht geklappt hatte, konnte doch noch Wirklichkeit werden.
Ich klopfte an die Scheibe. Svetlana schien wie aus einer Trance zu erwachen. Sie drehte sich um und kurbelte das Fenster herunter.
»Hast du Hunger oder Durst?«, fragte ich. »Ich könnte was aus der Tankstelle mitbringen.«
Sie zuckte mit den Achseln.
Ich ging hinein, kaufte zwei Flaschen Fanta und zwei dieser sündhaft teuren Sandwiches. Als ich den Shop verließ, bemerkte ich erfreut, dass Svetlana nicht mehr teilnahmslos vor sich hinstierte, sondern etwas vom Rücksitz holte. Sie hatte sich gerade nach hinten gebeugt, als sie mich sah. Sie schnappte sich einen der Atlanten.
»Was suchst du?«, fragte ich, als ich eingestiegen war.
Svetlana blätterte wild herum. »Ach nichts. Mir ist nur gerade eingefallen, dass es in all den Gegenden, wo wir waren, schöne Motive zum Fotografieren gibt. Ich sollte da was draus machen. Vielleicht sogar ein Buch.«
Ich startete den Motor und fuhr los. »Willst du etwa dafür sorgen, dass es noch einen dieser kitschigen Bildbände über das Bergische Land gibt?«
»Warum nicht? Ich meine, vielleicht kann man es ja auch anders machen.«
»Glaube ich nicht«, sagte ich so dahin. »Da kommt doch immer derselbe Kram raus. Mühlen, Häuser mit Schieferfassaden, Bäche …«
»Ich hatte mehr an Naturimpressionen gedacht…«
»Na ja, dann mach mal. Hier - Fanta für dich.«
Ich fuhr los, lenkte mit der linken Hand und hielt ihr mit der rechten die Flasche hin. Svetlana reagierte nicht, deswegen blickte ich nach rechts. Sie war plötzlich sehr wütend. Ihre Stirn hatte Falten, und sie hatte den Mund zu einer richtigen Schnute verzogen. Sie war wie verwandelt.
»Warum machst du meine Arbeit so schlecht?«, rief sie.
»Mache ich doch gar nicht.«
»Doch, das machst du. Ich versuche, mich nach all den schrecklichen Erlebnissen auf meine Arbeit zu konzentrieren, und du machst sie schlecht.«
»Entschuldige, aber wenn du plötzlich -«
»Ach, lass mich doch in Ruhe«, rief sie und brach in Tränen aus.
Ich hatte das Gefühl, in meinem Hals stecke ein dicker Kloß. Was hatte sie?
»Ich hab’s nicht so gemeint«, sagte ich.
Es nützte nichts. Sie sprach auf der ganzen Fahrt kein Wort.
*
»Wir sind da«, sagte ich, als wir in der Stockder Straße ankamen.
Svetlana starrte nach draußen. Sie hatte ihren rechten Zeigefinger an die Lippen gelegt und schien fieberhaft nachzudenken.
Irgendetwas war passiert. Aber was?
»Was ist denn?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nichts«, sagte sie leise.
Mein Blick fiel auf die Uhr neben dem Tacho. 15 Uhr 55.
Plötzlich geschah etwas, worauf ich nicht im Geringsten vorbereitet war. Svetlana beugte sich zu mir herüber, und dann drückte sie mir einen warmen, weichen und sehr langen Kuss auf die Lippen. Ich fuhr innerlich Achterbahn. Ich kam mir vor, wie aus Zeit und Raum gezogen, und als es vorbei war, brauchte ich ein paar Sekunden, bis sich in mir alles gesetzt hatte. Svetlanas Stimme kam wie durch Watte.
»Du hast alles richtig gemacht, Remi«, hörte ich sie sagen. »Es tut mir Leid.«
»Schon gut.«
»Wir sehen uns.«
»Wirklich?«
Sie nickte.
Ich atmete tief durch. Meine Chance war da.
»Kennst du das Café Engel? Vielleicht könnten wir uns da treffen?«
»Wann?«
»Morgen? Aber ruh dich erst mal aus.«
Sie warf mir einen Blick zu, wie ich ihn noch nie gesehen hatte. Rätselhaft. Dann knallte die Beifahrertür. Svetlana wandte sich ab und ging.
Ich sah zur Uhr. Es war genau vier.
*
Langsam rollte der Golf durch die Straßen. Ich zwang mich
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