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Rotwild: Der zweite Fall für Ingrid Nyström und Stina Forss (German Edition)

Rotwild: Der zweite Fall für Ingrid Nyström und Stina Forss (German Edition)

Titel: Rotwild: Der zweite Fall für Ingrid Nyström und Stina Forss (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Signe Danielsson , Roman Voosen
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er die Kontrolle verlor. Kontrolle war wichtig. Er musste wach bleiben, konzentriert. Der bluttriefenden Spur des Racheengels folgen. Weit konnte es nicht mehr sein. Lange konnte es nicht mehr dauern. Jetzt war nur noch Helena übrig. Seine Helena. Die Letzte. Die Anführerin.
    Die Dramaturgie des Todesengels folgte einer Logik, die Zeuner erst mit einiger Verzögerung begriffen hatte. Begonnen hatte alles vor einem halben Jahr mit dem grausamen Tod von Marlene Schwitter. Auch wenn sie natürlich einen anderen Namen getragen hatte. Der Foltermord auf dem brennenden Rad, ihr abgetrennter Kopf: ein Tod wie aus der Legende von der heiligen Katharina von Alexandria. Die Schutzheilige der Gelehrten. Wie passend, wie geistreich, hatte er später gedacht, nachdem er verstanden hatte. War Marlene Schwitters doch die Theoretikerin, die Intellektuelle der Gruppe gewesen. Ein Witz, dass sie später ausgerechnet als Bäuerin gelebt hatte. Schon damals hätte Zeuner alles begreifen können, wenn er wacher gewesen wäre, wenn er nicht im Delirium gelegen und der Welt abgeschworen hätte. Nun, er war rechtzeitig aufgewacht. Sein Unbewusstes hatte früher reagiert als sein von zu viel Alkohol vernebelter Verstand. Sein innerer Seismograf hatte trotz seines Zusammenbruchs Marlenes Tod registriert und er hatte ihm Helena geschickt. In seinen schwersten Stunden während des Entzugs in der Klinik war sie zu ihm gekommen. Eine metaphysische Vision oder einfach Psychologie, was spielte das für eine Rolle? Wichtig war, dass sie in dieser Nacht zu seinem Leitstern geworden war, zu seinem Weg zurück ins Leben. Zu seinem letzten Ziel.
    Dann hatte sich Leonidas gemeldet und ihn von Janus Dahlins Tod unterrichtet. Zuerst Marlene Schwitters, die für die Zeitungen und die Polizei die Bäuerin Ruth aus Osnabrück gewesen war, dann Janus Dahlin, der Schwede. Der echte Schwede. Nun konnte es keinen Zweifel mehr geben: Die Märtyrer der Zelle 719 starben.
    Jemand hatte herausgefunden, wer sie wirklich waren.
    Jemand voller Zorn.
    Und jetzt ermordete er sie, folterte sie zu Tode.
    Machte die Märtyrer zu Märtyrern.
    Wie perfide, dachte Zeuner, ein Racheengel mit Sinn für Ironie.
    Auf Janus Dahlin war Olof Andersson gefolgt. Alias Holger Schenk. Alias Hans-Peter Patschinski.
    Und schließlich Frederika Hakelius. Alias Kathrin Winkler. Genau wie bei Schenk hatte er sich den Namen ausgedacht, damals im Frühjahr 1987. In Wirklichkeit hieß sie Susanne Rauke. Arme Susanne, er hatte sie gerne gemocht. Sie war Helenas engste Vertraute gewesen. Und in den glücklichen Tagen während der Eingliederungsphase hatten Oberst Leonidas, Marlene Schwitters, Susanne Rauke und er an den Abenden in der Baracke auf dem abgelegenen Militärgelände 47 bei Briesen nahe der polnischen Grenze ein nettes Doppelkopfteam abgegeben. Janus Dahlin und Hans-Peter Patschinski hatten lieber Backgammon gespielt. Seine Nächte hatten alleine Helena gehört. Helena spielte keine Spiele, dazu war sie zu ernst.
    Helena, die überzeugte Sozialistin.
    Aber sie war eine leidenschaftliche Liebhaberin. Vier Wochen lang die beste, die intensivste Zeit seines grauen, zerzausten Lebens. Natürlich hätte Susanne ein anderes Ende verdient gehabt, als von zwei emporschnellenden Bäumen auseinandergerissen zu werden. Aber er war hart geblieben. Er hatte hart bleiben müssen. Er hatte nicht eingegriffen. Er hatte den Todesengel nicht gestoppt und ihm seine Rache gelassen. Er brauchte ihn.
    Führe mich, Todesengel, dachte Zeuner und leerte die Flasche. Führe mich in das gelobte Land.
    Führe mich zu ihr.

FREITAG
    1
    Ingrid Nyström sah abwechselnd auf die alte Postkarte und in Stina Forss’ Gesicht. Die junge Frau hatte Ringe unter den Augen. Sie selbst wahrscheinlich auch. Sie hatte am Morgen noch nicht in den Spiegel geschaut. Wohlweislich.
    »Was heißt das? Was steht da?«, fragte sie.
    Forss übersetzte.
    »Oh«, sagte Raipanen und rückte den Teller mit dem angebissenen Frühstücksbrot von sich weg.
    »Was bedeutet das?«, fragte Nyström.
    »Frederika Hakelius heißt in Wahrheit Kathrin Winkler. Hieß Kathrin Winkler. Und lebte 1988 in Görlitz. Das war damals DDR, Ingrid! Deutsche Demokratische Republik. Ostdeutschland. Die Zone.«
    Ihre Augen blitzten. Nyström drehte die Postkarte zum wiederholten Male um. Schließlich reichte sie sie weiter an Raipanen. Sie griff nach ihrem Tee. Trank bedächtig. Durch die geöffneten Fenster kam warme Luft, die frisch roch, nach Tau und Klee und

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