Rotwild: Der zweite Fall für Ingrid Nyström und Stina Forss (German Edition)
der Milch natürlich. Zusammengenommen sind das alles Bestandteile der Märtyrerlegende um die heilige Katharina von Alexandrien. Der Überlieferung zufolge eine frühe Christin, die dafür büßen sollte, dass sie die schlauesten Gelehrten des römischen Kaisers zum Glauben bekehrt hatte. Nach der Feuer- und Radfolter soll Milch statt Blut aus ihren Wunden geflossen sein. Seitdem gilt sie als die Schutzheilige der Philosophen und Intellektuellen.«
»Das passt ins Muster.«
»Das ist aber noch nicht alles.«
Wieder kratzte Lehmann an seiner Nase.
»Ziemlich schnell wurde klar, dass es Ruth Meringer überhaupt nicht gab. Also, es gab sie schon, aber ihre Papiere waren samt und sonders gefälscht. Eine hochprofessionelle Arbeit. Von den Lebensdaten her abgestimmt auf eine tatsächliche Person dieses Namens, die allerdings bereits vor Jahrzehnten im Kindesalter gestorben war.«
»Wie bei Hakelius und Andersson.«
»Genau. Dieselbe Masche.«
»Und ihr Lebensgefährte?«
»Hatte keine Ahnung. Das konnte er glaubhaft versichern.«
»Und wer war diese Frau wirklich?«
»Das hat das BKA wohl bis heute nicht herausgefunden. Der Kollege aus Wiesbaden, mit dem ich telefoniert habe, gab sich sehr zugeknöpft. Beim LKA Niedersachsen hatte ich dagegen mehr Erfolg.«
Frettchenlächeln.
»Spannen Sie mich nicht auf die Folter.«
»Man hat DNA-Tests durchgeführt. Und tatsächlich gab es Übereinstimmungen mit Spuren aus einem ganz anderen Fall: Die Frau, die unter dem Namen Meringer in Bramsche Biomöhren angebaut hat, war Ende 1986 an einem Banküberfall mit tödlichem Ausgang beteiligt. Eine Kassiererin wurde erschossen. In einer Sparkassenfiliale im Harz.«
»Marco Bode«, flüsterte Forss.
»Wie bitte?«
»Osterode.«
Lehmann glitt der Ordner aus der Hand.
4
Als Nyström nach langen Gesprächen mit den Säpo- und Reichskrimbeamten nach Hause kam, war die Mittsommerparty bereits im vollen Gange. Sie bereute es, dass sie die ursprünglichen Pläne nicht geändert und dafür gesorgt hatte, dass das Fest in diesem Jahr woanders stattfand. Seit vielen Jahren waren sie ein Kreis aus drei Familien, die sich am Mittsommer abwechselnd beieinander trafen. Als sie in den Achtzigerjahren damit begonnen hatten, hatten sie alle kleine Kinder gehabt und mit Blumenkränzen, Mittsommerstange und Tanz gefeiert. Mit den Jahren war es allmählich weniger geworden und spätestens als die Kinder herangewachsen und ausgeflogen waren und mit ihresgleichen auf Öland oder in Halmstad oder sonst wo feierten, hatten sie auf das ganze symbolische Drumherum verzichtet. Bis heute. Auf Wunsch ihrer Töchter hatten Anders und sie dieses Jahr alle eingeladen: die Freunde, deren Kinder und Enkelkinder. Im Garten wimmelte es nun von kleinen Kindern, jungen stolzen Eltern und Weingläser schwenkenden Menschen mittleren Alters. Eigentlich mochte sie solche Feste. Mochte es, wenn es überall tobte und krachte, schepperte und lachte. Aber heute nicht. Heute wäre sie gerne mit Anders allein gewesen. Es fühlte sich so unendlich lange her an, seit sie Zeit füreinander gehabt hatten. Zeit und Ruhe. Es war so viel passiert in den letzten Tagen. Es kam ihr vor, als kehrte sie von einem anderen Planeten zurück. Und in gewisser Weise stimmte das ja auch. Planet Horror. Aber selbst von dort hatte man sie heruntergestupst.
Auf der Treppe saßen ihre Enkelkinder Marcus und Elise in einem Meer von Wiesenblumen. Mit großem Ehrgeiz versuche Marcus einen Kranz zu binden. Lautstark instruierte er dabei seine kleine Schwester, Blumen für ihn in kleinen Sträußen bereitzulegen.
»Oma, guck mal, ich bin fast fertig!« Stolz hielt er eine unförmige Blütenwurst hoch.
»Kannst du mir gleich helfen, sie zusammenzubinden?«
Sie zwang sich ein Lächeln ab. Ihr Omalächeln.
»Gleich, Marcus, okay? Gib mir einen Moment. Habt ihr eigentlich schon gegessen?«
»Ja, aber leider noch nicht den Nachtisch. Der steht noch im Kühlschrank.«
Nyström zog ihren Rollkoffer durch die Tür und stieß dabei fast mit Madeleine zusammen, die mit einer riesigen Schale Schlagsahne auf dem Weg nach draußen war.
»Hej, schön dass du da bist«, grüßte Madeleine fröhlich.
»Ja.«
Nyströms Stimme war trocken. Sie ärgerte sich, dass ihr nichts Netteres einfiel. Dann war es zu spät. Die Freundin ihrer Tochter hatte sich schon an ihr vorbeigedrückt und war in den Garten gehuscht. In der Küche traf sie auf Anna, die ihr zur Begrüßung eine Erdbeere in den Mund schieben
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