Rotwild: Der zweite Fall für Ingrid Nyström und Stina Forss (German Edition)
an die merkwürdig sinnfreien Maschinen von Janus Dahlin.
Die seltsame, schwerelose Musik von Olof Andersson.
Beides hatte etwas gemein. Ein Streben nach einer Freiheit, vielleicht sogar nach Transzendenz. Beides war eine Art von Tempel, Schrein.
Was ist dein Tempel, Frederika Hakelius?
Was ist dein Altar, Frau Gretel?
Wo ist dein wahres Innerstes?
Draußen rollte der Donner. Irgendwo weit weg schlugen Blitze in den Wald. In die Küche drang nicht mehr als ein ferner Schimmer, eine Reflexion auf der Scheibe eines Bilderrahmens.
Forss stand auf. Sie ging in das Wohnzimmer. Sie schaute. Atmete. Witterte. Bilder an der Wand, ein gewebter Motivteppich, ein Regal mit Büchern, leichtes Zeug, Bestseller. Sie öffnete Schubladen. Wendete Kissenbezüge. Klopfte auf Fußleisten. Ihr Instinkt blieb stumm. Sie ging ins Schlafzimmer. Durchsuchte die Nachttische. Ein Schmuckkästchen. Den Kleiderschrank. Überall waren Dinge, teure Sachen. Aber nichts, das mehr war, als es war. Nichts Inneres. Sie sah unter das Bett. Sie fasste unter die Matratze. Sie wendete Teppiche. Nichts.
Nicht im Kinderzimmer. Nicht im Badezimmer. Nicht auf dem Dachboden.
Vielleicht gab es nichts, vielleicht hatte Nyström recht. Trotzdem würden sie morgen natürlich den Hauptwohnsitz der Familie in Skellefteå durchsuchen müssen. Sie ging zurück in die Küche. Wenigstens hatte sich ihre Wut gelegt. Sie ließ sich am Hahn ein Glas Wasser ein. Trank. Wieder zuckte draußen ein Blitz, diesmal viel näher. Eine Reflexion auf der Scheibe eines Bilderrahmens. Und am Rande ihres Bewusstseins.
Stuttgart-Bad Cannstatt zeigte die Radierung hinter dem Glas.
Frederika Hakelius, geborene Blomqvist, war nie in Stuttgart-Bad Cannstatt gewesen. Sie war gemeinsam mit ihren Eltern bei einem Busunglück in Norwegen verbrannt. Ihr Vater hatte nie als Ingenieur bei Porsche gearbeitet.
Warum dann dieses Erinnerungsstück? Als Tarnung? Legende? In einem Ferienhaus? Nach fünfzehn Jahren Ehe?
Blödsinn.
Forss nahm den Rahmen von der Wand. Er war schwer. Glas, massives Holz, eine verleimte Rückwand. Qualitätsarbeit. Sie legte das Bild auf die Vorderseite. Holte ein Küchenmesser aus einer Schublade. Schnitt. Die Rückseite löste sich, festes, vergilbtes Papier. Mit der Messerspitze hebelte sie es zur Seite. Darunter lag eine Art Stoff mit einer samtenen Konsistenz. Sie zog ihn ab. Ihr fiel etwas entgegen, halb am Stoff haftend. Eine Postkarte.
Benz auf Usedom. Stand da in hellblauer Type. Darunter: Ferienlager VEB Metallkombinat Leipzig .
Eine Baracke im Sonnenschein, davor Fahnenmasten, eine Lärche mit ausladenden Zweigen.
Forss drehte die Karte um. Ein handgeschriebener Text, auf Deutsch.
Liebe Kathrin,
einfühlsame Urlaubsgrüße von der Ostsee! Auch wenn das Wetter noch nicht zum besten ist: Alle Zeichen stehen auf Veränderung. Bald herrscht überall Sonnenschein, vertraue mir! Ich freu mich drauf,
Deine Helena
Adressiert war die Karte an eine Kathrin Winkler in Görlitz. Der Poststempel zeigte den 7. August 1988.
Einatmen, ausatmen.
Der Donner ließ das Geschirr im Regal zittern.
Das Gewitter war jetzt direkt über ihr.
14
Es hatte geregnet, stark und anhaltend, und in der Ferne über dem See war Donner zu hören gewesen, doch jetzt war es wieder trocken, auch wenn die Luft noch nach Regen roch, und der Himmel war hell. Es war nach elf, zumindest laut der Ziffernfolge auf ihrem Mobiltelefon, aber es hätte auch jede andere Uhrzeit sein können. Nyström entfernte sich von dem Hotel, folgte dem Ufer des Sees, Sand knirschte unter ihren Schuhen. Sie war sauer. Auf diesen wahnsinnigen Fall. Auf das unberechenbare Verhalten ihrer widerborstigen Mitarbeiterin. Aber vor allem auf sich selbst. Sie drückte die Nummer, aus einem Impuls heraus. Vielleicht war es endlich Zeit zu reden. Es tutete siebenmal. Dann nahm endlich jemand ab.
»Ja, hallo, hier ist Anders.«
Seine Stimme war heiter und im Hintergrund hörte sie jemanden lachen. Sie spürte den Druck, der auf ihrer Brust lastete. Wegen dem, was in ihrer Brust brütete. Sie fühlte, wie unendlich weit weg sie war. Am anderen Ende Schwedens. Im selben Land, aber in einer anderen Welt. In einer Welt, in der Menschen in Teile gerissen wurden und sich Pastoren als ehemalige Stasi-Agenten entpuppt hatten. Selbst wenn sie jetzt neben Anders in der Küche in Ör stehen würde, wäre sie Tausende Kilometer entfernt.
»Hej, ich bin’s«, sagte sie leise.
»Hej, wie schön, dass du anrufst! Wie geht es
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