Rotwild: Der zweite Fall für Ingrid Nyström und Stina Forss (German Edition)
schwül. Sie hatte das Gefühl, mit jedem Atemzug etwas zu sich zu nehmen, das nicht wieder aus ihr herauskam, das in ihren Lungen haften blieb: Ruß, Pollen, aber auch eine stechende, positive Lebendigkeit. Ich atme den Schweiß der Stadt, dachte sie. Im Radio plärrte Popmusik, Xavier Naidoo sang etwas von gesetzten Segeln und einem steinigen Weg, Pathos zwischen Werbeblöcken. Am Rückspiegel des Autos baumelten eine Gebetskette und ein trockener Duftbaum. Der junge Fahrer hatte rasierte Muster in seinem Bart. Der Wagen fuhr im Strom des Feierabendverkehrs durch Moabit, dann an den modernistischen Bauten des Hansaviertels vorbei, passierte den Stadtteil Tiergarten und hielt schließlich in Charlottenburg in der Keithstraße vor dem Dienstgebäude des LKA 1. Sieben Jahre lang war Forss in dem imposanten Gründerzeitbau täglich ein- und ausgegangen. Abteilung für Delikte am Menschen . Ein trockener Euphemismus für die Arbeit einer Mordkommission.
Lehmann erwartete sie in seinem Büro. Forss hatte bereits am Vormittag mit ihrem ehemaligen Ausbilder und Vorgesetzten telefoniert.
»Alte Schwedin«, sagte er. Sein Grinsen war wie immer ein Zähneblecken.
Forss lächelte.
Lehmann hatte das Gebiss und die Aura eines Frettchens. Farbloses Haar, schmale Statur, spitze Nase, haselnussbraune Augen. Menschen, die ihn nicht kannten, neigten dazu, ihn zu unterschätzen. Er wusste das und spielte damit. In Forss Augen war er ein brillanter Kriminalist, analytisch, vorausschauend und außerordentlich gut vernetzt. In seiner trockenen, angestaubten Art bat er sie Platz zu nehmen und bot ihr Kaffee an. Sein Kaffee war im ganzen Präsidium berüchtigt. Säuerlicher, bitterer Filterkaffee, der stundenlang auf einer Warmhalteplatte zu einem teerschwarzen Sud eindampfte. Forss war seit jeher überzeugt, dass die grauenhafte Lorke ebenso ein Teil von Lehmanns Selbstinszenierung war wie die ewigen Schuppen an seinem Sakkoaufschlag. In einem jahrelangen Training hatte sie gelernt, Lehmanns café muerte ohne Streik der Gesichtsmuskulatur hinunterzubekommen.
»Milch? Zucker?«, fragte er mit treuherzigem Augenaufschlag.
Es war ein festes Ritual zwischen ihnen.
»Nein, danke«, antwortete Forss. »Ich trinke schwarz.«
Jetzt war es Lehmann, der lächelte. Sein Frettchenlächeln. Sie tauschten launige Höflichkeiten aus.
Dann wurde er wieder ernst.
»Ich habe seit heute Morgen einige Telefonate geführt. Ich denke, in Ihrem Sinne, Frau Forss.«
Wie ungewohnt es sich anfühlte, wieder gesiezt zu werden. Dabei war sie doch kaum vier Monate weg aus Berlin. Und erst die teutonische Aussprache ihres Namens. Forss mit scharfem S. Wie das englische force .
May the force be with you, Stina Skywalker .
»Ich habe einen Kontakt in der Jahn-Behörde. Alter Weggefährte, guter Mann. Wenn es dort etwas über Ihre Mordopfer zu finden gibt, dann gräbt er es aus. Sie können ihn heute Abend treffen.«
»Danke.«
»Nichts zu danken.«
Er kratzte sich an der Nasenspitze.
»Dann ist da noch etwas, auf das ich gestoßen bin. Etwas durchaus Beunruhigendes.«
Er blätterte in einer dünnen Akte.
»Nach Ihrem Anruf habe ich in unseren Datensätzen nach allen möglichen Querverweisen gesucht. Stichworte wie Märtyrer, Folter, abgetrennte Gliedmaßen, Dinge, von denen Sie berichtet haben. Dabei bin ich auf etwas gestoßen.«
Seine braunen Augen sahen sie über die Kante des Schnellhefters hinweg an.
»Was?«
»Womöglich tötet er schon länger.«
»Wie bitte?«
»Am 14. Januar dieses Jahres wurde in Bramsche, einer Kleinstadt in der Nähe von Osnabrück, die 49-jährige Ruth Meringer auf sehr brutale Weise ermordet. Ihr Lebensgefährte fand den verbrannten, auf ein altes, nagelgespicktes, hölzernes Kutschrad gespannten Leichnam der Biobäuerin in der Scheune des Hofs, den Meringer bewirtschaftete. Der Kopf war abgetrennt und in einen Bottich mit Milch geworfen.«
»Oh«, sagte Forss.
»Die Ermittlungen verliefen im Sande. Ihr Partner beschuldigte Landwirte von umliegenden Höfen, aber das war völlig substanzlos. Kurz geriet er wohl selbst ins Visier der Ermittler, vor allem, weil er psychisch einen sehr labilen Eindruck machte, aber er hatte für die Tatzeit ein Alibi. Außerdem gab es gar kein Motiv. Das gesamte Umfeld hatte beide als glückliches, ausgeglichenes Paar beschrieben. Vor dem Hintergrund deiner Fälle in Schweden habe ich die Tatumstände einmal genauer recherchiert. Brandopfer, Radfolter, abgetrennter Kopf. Und das mit
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