Rotwild: Der zweite Fall für Ingrid Nyström und Stina Forss (German Edition)
wollte.
Sie drehte den Kopf zur Seite wie jemand, der einem Kuss ausweicht.
»Nein, danke, aber ich muss zuerst etwas Richtiges essen. Gibt es noch Kartoffeln?«
»Ohne Ende! Wir haben die halbe Nacht Kartoffeln geschrubbt, damit für alle genügend da ist. Hätten wir uns aber auch schenken können, da die Kinder keine Zeit zum Essen haben. Die haben nur im Vorüberlaufen ein paar Hackfleischbällchen in sich reingeschoben.«
Anna lachte.
»Und jetzt warten sie auf den Nachtisch.«
»Danke, dass ihr alles hier vorbereitet habt und ohne mich ausgekommen seid.«
»Keine Ursache. Du bist ja schließlich nicht unersetzlich!«
Anna lachte wieder.
Der Satz traf Nyström, obwohl sie wusste, dass ihre Tochter es nicht so gemeint hatte.
»Ich zieh mich nur schnell um, dann bin ich bei euch«, sagte sie schnell.
Im Schlafzimmer zog sie die Tür hinter sich zu, schloss die Augen und atmete tief die vertraute, leicht staubige Luft des Raumes ein. Jetzt war sie zu Hause. Unbewusst suchte ihre Hand die harte Stelle in ihrer Brust. Von draußen drang das Lachen der Kinder herein. Am Montag, dachte sie, gleich am Montag fahre ich zu diesem Arzt nach Kristianstad.
»Ingrid, bist du da?« Anders’ Ruf aus dem Flur holte sie in die Gegenwart zurück.
»Ja, ich ziehe mich um, bin gleich bei euch.« Sie ließ ihre Brust los und begegnete ihrem Blick im Spiegel. In der Tat war Stina Forss nicht die Einzige mit Ringen unter den Augen. Sie probierte ein Lächeln aus. Sie fand, sie sah aus wie ein kranker Panda.
In dem großen Tumult im Garten war es schwer, sich zurückzuziehen. Als zum Tanz um die Mittsommerstange aufgefordert wurde, kamen ihre Enkelinnen Elise und Thea angestürmt und zogen sie aus dem Gartenstuhl.
»Komm, Oma, wir wollen das Krähenlied und du musst uns schubsen.«
Die beiden konnten sich noch gut an Weihnachten erinnern, als sie zum Lied von Omas kleiner Krähe , die ohne Fahrer losfuhr und mal hierhin, mal dorthin geschubst wurde, um den Tannenbaum getanzt hatten. Auch wenn sie eigentlich keine Kraft hatte, ließ sie sich ins Schlepptau nehmen, und als dann noch Gunn und Osvald ihre Geigen anstimmten, spürte sie beinahe so etwas wie Freude. Sie stimmte in die Lieder ein und zog die Kinder mit Schwung hinter sich her. Aus den Augenwinkeln sah sie Anna mit Madeleine auf der Treppe sitzen. Sie schienen sich nicht für den Tanz zu interessieren, sie guckten nur belustigt zu, wie die jungen Eltern Kröten und Schweine nachmachten, um ihren Kindern eine traditionstreue Mittsommerfeier zu bereiten. Wenn ihr mal selbst Kinder habt, werdet ihr das verstehen, dachte sie, um im nächsten Moment einzusehen, dass sie damit wahrscheinlich falsch lag.
Nach dem Tanzen wurde gegrillt, weitere Weinflaschen wurden aufgemacht und die Kinder verschwanden nach und nach in den Betten. Nyström bemühte sich, den Gesprächen zu folgen, aber sagte selbst nicht viel. Zum Glück kannten ihre Freunde sie gut und auch wenn sie aufgrund der hysterischen Presseberichte über die sogenannten Märtyrermorde neugierig waren, wussten sie, dass das Berufliche für sie bei solchen Treffen ein Tabu war. Anders hatte die Rolle des Gastgebers übergenommen und wurde dabei von ihren drei Töchtern unterstützt. Über den Tisch suchte sie Anders’ Blick und als er in ihre Richtung sah, lächelte sie ihn an, dann stand sie auf und entfernte sich. Es war schon spät. In der aufziehenden Dämmerung schlenderte sie durch den Garten, sog den intensiven Duft von neu geschlagenem Heu ein und ließ ihre Hand über die Margeriten an der Hauswand gleiten. Ein Wunder, dass die Blumen das Toben der Kinder unbeschadet überstanden hatten, dachte sie. Auf der niedrigen Holztreppe vor dem Eingang setzte sie sich hin und drückte, während sie über die Wiese vor dem Haus hinausschaute, ihre Schläfen. Sie wusste nicht, wie lange sie schon so saß, als sie von hinten jemanden kommen hörte und dann zwei warme Hände auf ihren Schultern spürte. Es war nicht Anders, das merkte sie sofort. Die Hände waren zu klein und zu zart. Anna, dachte sie. Meine liebe Anna. Die sanfte Massage löste ihre Verspannung und ein angenehmes Gefühl breitete sich in ihrem Körper aus. Zum ersten Mal an diesem Tag fühlte sie, wie froh sie war, bei ihrer Familie zu sein.
»Du hattest wohl einen harten Tag, oder?«
Es war nicht die Stimme von Anna. Es war die Stimme von Madeleine. Nyström lächelte. Diesmal kam es ganz von alleine.
»Ich hatte eine harte Woche«, sagte
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