Rotwild: Der zweite Fall für Ingrid Nyström und Stina Forss (German Edition)
sagen die Kollegen von der Wasserschutzpolizei. Und massenhaft Klamotten lägen da auch rum. Außerdem sei alles voller Blut.«
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Als Stina Forss der Gedanke kam, dass sie eigentlich noch gar nicht wieder nüchtern genug war, um Auto fahren zu dürfen, war sie schon beinahe in Humlehöjden angelangt. Zwischen den hohen Fichten machte die schmale Straße eine letzte Kurve, dann war die lang gezogene Auffahrt zum Gasthaus bereits zu sehen. Gerade als sie auf den Parkplatz einbog, kam ihr ein Volvo mit Blaulicht und Sirene entgegen und sie erkannte Hugo Delgado und neben ihm Lars Knutsson, bevor der Kombi mit hoher Geschwindigkeit zwischen den dunklen Bäumen verschwand. Forss parkte ihren Polo und stieg aus. Sie war zu Hause gewesen, hatte geduscht und sich die Zähne geputzt, trotzdem roch ihr Atem noch deutlich nach Alkohol. Auf dem Fußboden in ihrem Flur hatte die Post gelegen, das meiste war Werbung, aber da war auch ein Brief in einem dunkelbraunen Umschlag gewesen. Kurz hatte sie gestockt und einen Stich verspürt. Es gab nur einen Menschen auf der Welt, den sie kannte, der diese extravaganten Umschläge benutzte. Nicht jetzt, hatte sie entschieden. Später. Dann war sie wieder hinausgeeilt. Demonstrativ hatte sie auf ihre Uniform verzichtet und trug stattdessen ein T-Shirt, einen schlichten Jeansrock und Sandalen mit Keilabsatz. Sie hatte nur eine sehr grobe Vorstellung von dem, was sie erwartete. Anette Hultin hatte sich am Telefon sehr kurz gehalten, außerdem war die Verbindung schlecht gewesen und immer wieder abgerissen. Es ging um einen Todesfall, so viel hatte sie verstanden, und Ingrid Nyström wollte ihre Hilfe. Sie kam nicht umhin, eine gewisse Genugtuung zu empfinden. Ihre Chefin hatte sie auf die Strafbank gesetzt und ließ sie dort seit nunmehr drei Monaten schmoren. Grundlagendienst nannte man das hier. Drei Tage die Woche Streife fahren und Ladendiebstähle aufklären, zwei Tage gemeinsam mit jungen Dienstanwärtern die Schulbank auf der Polizeihochschule drücken, Mittzwanziger, die mehr als zehn Jahre jünger waren als sie. Vor dem Spätsommer sollte sich daran auch nichts ändern, so viel hatte Nyström ihr unmissverständlich klargemacht. Eine Strafe dafür, dass sie sich während der Ermittlungen in einem Mordfall kurz nach ihrer Ankunft im Winter eigenmächtig über ein halbes Dutzend Dienstvorschriften hinweggesetzt, sich eine illegale Schusswaffe besorgt und diese auch verwendet hatte. Zugegeben, das waren keine Kleinigkeiten. Aber andererseits hatte sie durch ihr vielleicht nicht ganz vorschriftsmäßiges Handeln maßgeblich dazu beigetragen, einen komplizierten Fall zu lösen und einer suizid-gefährdeten Verdächtigen das Leben zu retten. Eine so schlechte Polizistin konnte sie also nicht sein. Und was war der Dank dafür? Dass man sie wie ein Kleinkind behandelte. Die Situation war zum Heulen. Nun, zumindest bis heute. Man schien sie wieder zu brauchen. Wie es aussah, sollte sie zu ihrem vierunddreißigsten Geburtstag einen Toten bekommen.
Vor dem Gasthaus, aus dem Stimmengewirr und Essengeruch drang, traf sie einen jungen, uniformierten Kollegen, den sie aus dem Streifendienst kannte. Er wies ihr den Weg zu dem Fundort der Leiche in dem Waldgürtel am Seeufer.
Offensichtlich war die Sicherung der Fundstelle bereits weit fortgeschritten: Das Areal unter den Fichten war weiträumig mit blau-weiß gestreiftem Plastikband abgesperrt und von Bo Örkenruds Spurensicherungsteam sah Forss lediglich zwei junge Frauen in violetten Kunststoffoveralls zwischen den Baumstämmen. Die eine kroch auf allen vieren und sprühte dabei eine Flüssigkeit aus einem Druckbehälter auf den Waldboden, die andere hielt einen Fotoapparat mit einem auffällig großen Objektiv in den Händen und ging immer wieder in die Hocke, um eine gute Position für ihre Aufnahmen zu finden. Der Knall des leistungsstarken Blitzes der Kamera hallte zwischen den Fichten wider, das Absperrband surrte in dem warmen Wind, der vom See her kam. Beide Frauen arbeiteten in den äußeren Sektoren des abgesteckten Bereichs.
Forss war froh, dass sie den Ort beinahe für sich allein hatte. Dass Nyström, Hultin, Örkenrud und die anderen eine Pause machten oder eine Besprechung abhielten. Dass niemand ihre Wahrnehmung beeinträchtigte. Keine Vorgeschichte, keine Meinung, keine Interpretation. Sie nickte den Kolleginnen von der Spurensicherung zu, dann bediente sie sich an einem der umherstehenden Tatortkoffer und zog sich die
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