Rotwild: Der zweite Fall für Ingrid Nyström und Stina Forss (German Edition)
obligatorischen Schuhüberzieher und Handschuhe an. Das Gefühl von gepudertem Latex auf ihrer Haut war gut und vertraut. Sie schloss für einen Moment die Augen. Wieder hörte sie den Blitz der Fotografin knallen. Die Luft roch nach Nadelwald und See. Und dann war da noch etwas anderes. Sie öffnete die Augen. Zehn Meter von ihr entfernt befand sich das Zentrum des abgesperrten Areals. Sie duckte sich unter dem Plastikband hindurch und ging auf den leblosen Körper zu, der an den abgestorbenen Stamm einer Fichte gebunden war. Drei Schritte vor dem Toten blieb sie stehen. Jetzt roch sie es: Exkremente und geronnenes Blut. Sie sah: weiße, blaue, gelbe Haut. Geschwollene, verdrehte Körperteile. Ein fehlendes Auge. Ein verirrter Hirschkäfer, der scheinbar orientierungslos auf dem Bauch des Leichnams im Kreis krabbelte. Die Pfeile. Neongelbe Anglerschnur, die tief in die Haut schnitt.
Sie ging einige Schritte zurück. Ihre Schläfen pochten. Was ist das Wesentliche, fragte sie sich. Was ist das Wesen dieses Todes hier im Wald? Sie trat noch einen Schritt zurück. Dann fiel ihr etwas ein. Forensisches Grundlagenwissen, einfachste Ballistik: Fand man an einem Tatort einen Schusskanal vor, ein Loch in einem festen Material, das ein Projektil beim Einschlag hinterlassen hatte, konnte man die Schussrichtung ganz einfach dadurch bestimmen, dass man einen dünnen Stock in diesen Schusskanal einführte. Die Richtung des Stocks wies die Richtung des Schusses. Hier brauchte man keine Stöcke. Die gab es schon. Die Pfeile im Körper des Toten wiesen die Richtungen, aus denen sie abgeschossen worden waren. Forss probierte es aus: Sie stellte sich in die gedachte Verlängerungslinie des Pfeils, der am weitesten links aus dem Körper hinauswies. Mit der Schuhspitze markierte sie leicht die Position in dem weichen Waldboden. Dann stellte sie sich entsprechend der Position des nächsten Pfeils und setzte ebenfalls eine Markierung. Insgesamt dreizehnmal bohrte sie ihren Schuh in den Boden. Dann betrachtete sie die Spuren, die sie hinterlassen hatte. Der Täter hatte sich im Halbkreis um sein Opfer bewegt und seine Pfeile abgeschossen. Alle Schüsse mussten etwa aus Augenhöhe abgegeben worden sein, wenn man davon ausging, dass sich der Tote in aufrechter Position befunden hatte und der Täter ungefähr so groß wie sein Opfer gewesen war: Die Pfeile, die im Kopf des Mannes steckten, standen nahezu waagerecht ab, während die unteren Pfeile zum Ende hin einen aufsteigenden Einschusswinkel aufwiesen. Der Schütze umkreist sein Ziel, überlegte Forss. Voller Geduld gibt er dreizehn Schüsse ab. Oder hatte es dreizehn Schützen gegeben? Unwahrscheinlich, dachte sie. So etwas gab es nur in Agatha-Christie-Romanen. Das hier war etwas anderes. Marter, dachte sie. Der Mann war zu Tode gemartert worden.
»Er wurde woanders getötet. Hier hat man ihn nur abgelegt.«
Forss wandte sich um. Nyström und die Pathologin Dr. Kimsel waren den Pfad hinaufgekommen, hinter ihnen gingen zwei Männer, die einen Metallsarg trugen. Dann kamen auch Örkenrud und weitere Menschen in Violett.
»Hej, Stina, danke, dass du gekommen bist.«
Zögernd griff Forss nach der Hand, die Nyström ihr entgegenhielt.
»Wir können deine Erfahrung hier gebrauchen. Ich würde mich freuen, wenn du dabei wärst.«
Die Gesichtszüge der Hauptkommissarin waren angespannt, auf ihrer Wange war ein Äderchen geplatzt. In ihrem Blick lag etwas Drängendes. Aber vielleicht bildete sich das Forss auch nur ein.
»Schon gut«, sagte sie und kratzte sich am Ohrläppchen. »Was wissen wir bis jetzt?«
9
Delgado und Knutsson fuhren die 23 durch Sandsbro, bogen in den Björnvägen ein, rasten durch die Tempo-30-Zone in Evedal und überfuhren in der Höhe von Lilla Smäcken beinahe ein frei laufendes Huhn, das sich weder um das Blaulicht noch um die Sirene des Polizeiwagens zu kümmern schien. Über eine kleine Brücke führte der Weg nach Hissö und wenige Minuten später hatten sie das nördliche Ende der Insel erreicht. An der Badestelle wartete bereits Bengt Borg auf sie, ein Kollege von der Wasserschutzpolizei.
»Ich denke, es wäre das Praktischste, wenn ihr mit aufs Boot kommt.«
»Warum? Was ist denn mit der Treidelbrücke?«, fragte Delgado. Seine Vorbehalte gegen jede Art von Wassersport oder gar Badevergnügen waren präsidiumweit bekannt.
»Tja, ich fürchte, darin liegt wohl ein Teil des Problems«, sagte Borg.
Kurz danach verstanden sie, was Borg gemeint hatte. Sie
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