Rotwild: Der zweite Fall für Ingrid Nyström und Stina Forss (German Edition)
fünf!«
»Aber wann hattest du denn Geburtstag?«
»Vorgestern«, antwortete seine Mutter spitz. »Aber als Patenonkel kann man wohl nicht immer an so etwas denken.«
»Jedenfalls herzlichen Glückwunsch nachträglich.«
Delgado streckte seine Hand aus und wühlte in den Haaren seines Neffen.
»Vorgestern hatte ich leider ein paar andere Dinge um die Ohren. Vielleicht verhalten sich die Mörder nächstes Jahr ein bisschen ruhiger, dann werde ich dir rechtzeitig gratulieren.«
»Ich habe einen Unihockeyschläger bekommen. Nun können wir immer spielen, wenn du kommst.«
»Super.«
Mit Handtüchern unter den Armen gingen sie im Zickzack zwischen Familiengrüppchen auf Picknickdecken runter zum Ufer des Helgasees. Am Strand zog sich Delgado die Schuhe aus und bohrte seine nackten Füße in den warmen Sand. Zum ersten Mal fühlte er wirklich, dass es Sommer geworden war. Solange er arbeitete, nahm er das alles nicht richtig wahr.
»Kommst du gleich mit zu uns?«
»Ach, ich weiß nicht, ich bin eigentlich ziemlich müde.«
»Aber es ist doch Mittsommer, da kannst du doch nicht alleine in deiner Wohnung sitzen. Oder hast du etwas Besseres vor? Vielleicht eine Verabredung? Warum stellst du uns deine heißen Ladys nie vor?«
»Ach komm, so heiß sind die gar nicht.«
»Sagst du nur so, ich kenne dich doch, du interessierst dich keineswegs für Langweilerinnen. Mal abgesehen von dieser Anette.«
»Mein liebes Schwesterherz, Anette ist nicht langweilig. Das sagst du nur, weil sie kein Cueca tanzen und keine Empanadas kochen kann.«
»Schlimm genug!«
Sie mussten beide lachen. Auch der kleine Pedro stimmte mit ein.
»Und wie ist deine neue Kollegin? Diese Deutsche.«
Delgado sah seine Schwester lange an. Dann nahm er einen Stein und warf ihn weit ins Wasser hinaus.
»Ein ganz anderes Kaliber.«
10
Die Gedanken wirbelten Stina Forss durch den Kopf, an Schlaf war nicht zu denken. Die Märtyrermorde hatten nicht erst vor einer Woche in Schweden begonnen, sondern bereits vor Monaten in Deutschland. Jemand war auf der Jagd, tötete Menschen wie Wild, einen nach dem anderen. Von vier dieser Morde wussten sie nun. Hatte es noch mehr gegeben? Würde es noch weitere geben? Oder war die Jagd zu Ende? Sie wussten jetzt von einem Banküberfall im Harz und der Einwanderung von Kathrin Winkler beziehungsweise Frederika Hakelius in die DDR. Aber wie passte das alles zusammen? Sie musste morgen als Erstes unbedingt mehr über diesen Raubüberfall in Osterode erfahren, dabei würde Lehmann ihr wahrscheinlich helfen können. Zudem brauchte sie viel mehr Informationen über das Leben der anderen Opfer in Ostdeutschland. Breuer hatte von einem Einwanderungslager gesprochen, in Fürstenwalde. Vielleicht wäre das ein Anhaltspunkt. Morgen, dachte sie, morgen. Es ging auf Mitternacht zu, aber sie fühlte sich trotzdem wach wie seit Langem nicht mehr. Das war die Stadt. In der Luft lag ein Tempo, von dem ihr Kopf Seitenstechen bekam. Alles nahm Fahrt auf. Der Fall, der sie vor sich herjagte, bis in die Berliner Nacht. Hierher, wo sie viele Jahre gelebt hatte. Mit Sebastian. Sie dachte an seinen Brief, den sie noch immer nicht geöffnet hatte, seinen Brief in dem braunen Couvert, der auf der Kommode in Majs Haus lag. War es womöglich das Schicksal, das sie zurück nach Hause geführt hatte? Sollte sie einfach zu ihrer alten Wohnung gehen und Sebastian aus dem Schlaf klingeln? Wäre es nicht das Einfachste, dort weiterzumachen, wo sie vor vier Monaten aufgehört hatten? War ihr Leben in Schweden wirklich mehr als eine Chimäre, ein Luftschloss? Warum setzte sie sich Woche für Woche neben diese sterbende Hülle, die ihr Vater war, wo sie doch nichts empfand? Bröring hatte von Verzeihen gesprochen. Aber wie sollte sie verzeihen, wenn sie nichts fühlte?
Der warme Wind trieb sie durch die Straßen. Sie genoss das Klackern ihrer Absätze auf dem Kopfsteinpflaster. Es fühlte sich großstädtisch an. In Schweden gab es solche Straßen nicht, zumindest nicht im kleinen Småland. Sie versuchte Oleg anzurufen, aber erreichte nur seine Mailbox. Dort erklärte er in seinem kratzigen, kehligen Deutsch, dass er die Sommersonnenwende in einem Schwitzzelt in Sachsen-Anhalt feiern würde. Noch so ein Großstadtindianer, dachte sie. Sie probierte es bei zwei alten Freundinnen, ebenfalls erfolglos. Da ist man mal in der Stadt, aber kein Aas hat Zeit, dachte sie. Vielleicht lag es auch daran, dass das Aufrechterhalten von Freundschaften nicht
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