Rotwild: Der zweite Fall für Ingrid Nyström und Stina Forss (German Edition)
Mithilfe des Ministeriums für Staatssicherheit neue Identitäten und wurden dort sesshaft. 1990 wurden die ehemaligen RAF-Mitglieder verhaftet .
Rote Armee Fraktion, dachte Forss. Auf ihrer Stirn stand kalter Schweiß. Sie fischte ihr Handy aus der Tasche und die Karte, die Frank Bröring, der Mann aus der Jahn-Behörde ihr zum Abschied gegeben hatte. Sie wählte seine Nummer. Nach dem sechsten Tuten nahm er ab.
Dass es eine Verbindung zwischen der Stasi und Teilen der RAF gab, ist eine seit Langem bekannte Tatsache, erklärte Bröring. Erste Kontakte seien dabei bereits Ende der Siebzigerjahre geknüpft worden. Man führte lose Gespräche, später ließ die Stasi Mitglieder von RAF und Bewegung 2. Juni unbehelligt Grenzstationen passieren und die DDR als Fluchtkorridor benutzen, aus Solidarität im antiimperialistischen Kampf gegen den gemeinsamen Klassenfeind. Außerdem hatte das MfS natürlich ein Interesse an größtmöglicher Kontrolle der RAF, was angesichts der doch sehr verschiedenen Zielsetzungen aber kaum gelang. In den Achtzigerjahren erhielten RAF-Angehörige von Stasi-Leuten auch Waffenunterricht, zum Beispiel Panzerfausttraining. Zehn aussteigewillige Terroristen kamen unter falschem Namen langfristig in der DDR unter und entgingen so bis 1990 der Verfolgung durch die westdeutschen Behörden.
Forss überlegte. Zehn ehemalige Terroristen. Könnten es möglicherweise nicht noch mehr gewesen sein, fragte sie. Sie hörte, wie Bröring am anderen Ende der Leitung seine Bartstoppel kratzte. Vielleicht waren es auch seine Narben.
»Nach bisherigen Erkenntnissen der Jahn-Behörde waren das alle in der DDR untergetauchten Exterroristen«, sagte er. Anderseits seien der Bundesanwaltschaft bis heute weniger als die Hälfte der Mitglieder der dritten RAF-Generation bekannt und die meisten Akten der für die Deckidentitäten zuständigen MfS-Abteilung XII seien vernichtet. Den ehemaligen zuständigen Stasi-Offizieren sei zwar teilweise 1997 der Prozess gemacht worden, aber dennoch hüllten sie sich bis heute weitestgehend in Schweigen.
»Ganz ausschließen kann man es wohl nicht.« Er räusperte sich. »Es kommen dauernd neue Dinge ans Licht. Nach jüngsten Erkenntnissen deutet zum Beispiel einiges darauf hin, dass manche dieser sogenannten RAF-Aussteiger gar kein so ruhiges, kleinbürgerliches Leben in der DDR geführt haben, wie zunächst angenommen wurde, sondern dass einige häufiger unter ihren Decknamen nach Westdeutschland ausreisten und dort weiterhin politisch aktiv waren, besonders in Wackersdorf und der Anti-Atomkraftbewegung.«
»In der Anti-Atomkraftbewegung?«
»Genau.«
Die Glocke in ihrem Kopf schrillte so laut, dass ihr Augenlid zu zittern begann.
Delgado hatte doch gleich am ersten Ermittlungstag herausgefunden, dass Janus Dahlin Mitte der Achtzigerjahre auf einer Demonstration gegen Atomkraft verhaftet worden war. Kurz danach war er zum Studieren nach Deutschland gegangen und erst Anfang der Neunzigerjahre wieder in Schweden aufgetaucht. Langsam ergaben die Dinge Sinn.
4
Die Kinder trugen merkwürdige Kostüme. Sie sahen aus wie kleine Frösche, nein, eher wie kleine Kröten. Lachend tanzten und sprangen sie um die Mittsommerstange. Es war dunkel, es war sogar zappenduster, dabei war doch Mittsommer, die hellste Nacht des ganzen Jahres! Jetzt sah sie, dass die Mittsommerstange lichterloh brannte. Das sah grauenhaft aus. Wie ein Ku-Klux-Klan-Kreuz, ein böses, ein Unheil verkündendes Symbol. Warum holte denn niemand die Kinder da weg? Das Spiel von Flammen und Schatten flackerte auf ihren kleinen, verzerrten Krötengesichtern. Anders war da und hielt sich vor Lachen seinen Bauch. Auch Anna und Madeleine hatten Bäuche. Sie küssten sich. Beide waren hochschwanger. Aber wie konnte das sein? Ihre ganze Familie feierte ein Freudenfest, nur sie konnte sich nicht freuen. Sie war gar nicht dort. Sie wurde nicht gebraucht. Ihr Platz am Tisch war leer. Dort, wo sie sonst saß, lag ein großer, glatt geschliffener Stein ... Nass geschwitzt wachte Ingrid Nyström auf. Neben ihr hob und senkte sich Anders’ breiter Rücken. Sie ließ ihren Atem zur Ruhe kommen, dann stand sie auf und ging duschen. Das kalte, eisenhaltige Wasser, das die elektrische Pumpe aus den Tiefen der småländischen Erde saugte, wusch die letzten Spuren des fürchterlichen Traums davon. Sie zog sich einen dunklen Hosenanzug an, der für die Jahreszeit eigentlich viel zu warm war. Sie frühstückte, dann fuhr sie mit ihrem
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