Rotwild: Der zweite Fall für Ingrid Nyström und Stina Forss (German Edition)
gerade zu ihren Stärken gehörte. Kurz dachte sie an Maj und deren Töchter, an den nie gebackenen Geburtstagskuchen, das Versprechen, das sie gegeben und nicht gehalten hatte.
Unter dem Brandenburger Tor küssten sich junge Japaner und filmten sich dabei mit ihren Handys. Ein dicker Mann auf einem Moped knatterte ohne Helm und Oberbekleidung an ihnen vorbei, seine Bauchfalten wabbelten im Wind und seine langen hellen Haare flatterten wie der Schleier einer Braut hinter ihm her. Auf dem Bürgersteig schimmerten zwei Stolpersteine im Schein der Straßenlampen, kleine, quadratische Gedenktafeln aus Messing, die ins Pflaster eingelassen waren und an Menschen erinnerten, die vor fünfundsiebzig Jahren in dieser Straße gewohnt hatten, bevor sie von den Nationalsozialisten deportiert und ermordet wurden. Forss zog es weiter durch die Nacht. In einer Bar in Mitte trank sie zwei Bier und zwei Wodka und tanzte ein bisschen zu basslastiger, elektronischer Musik. Eine Bar weiter gab es Siebzigerjahre-Discosound und Lakritzschnaps. Ein Typ mit Beatlesfrisur überredete sie, mit zu einer Party zu kommen. In einem leer geräumten Wohnzimmer in Kreuzberg tanzte sie zu Scooter und Rage Against The Machine und trank Rotwein mit Cola. Zwei Partys später stand sie auf dem Balkon einer Altbauwohnung im Prenzlauer Berg und rauchte mit einer Frau, die aus unerfindlichen Gründen einen Schnurrbart auf der Oberlippe kleben hatte, einen Joint. Es war nach drei Uhr und sie war noch immer nicht müde. Sie hängte sich an zwei Paare, die noch irgendwo einen Döner essen gehen wollten, anschließend ging es in eine Kneipe, die angeblich richtig guten Absinth ausschenkte. In der Musikbox drückte sie Johnny Cash für einen letzten Tanz. Der Wirt, ein tätowierter Baumstamm mit Dauerwelle, drehte sie wie eine Ballerina, burning ring of fire , seine Frau klatschte dazu im Takt. Ein allerletztes Glas im Stehen. Dann ging Forss nach Hause, in Richtung des Hotels, in dem sie eingecheckt hatte. Ihre Gedanken fuhren Achterbahn.
Eine Gruppe junger Leute, drei Deutsche, ein Schwede.
Ein Banküberfall im Harz, Osterode, Westdeutschland 1986.
Rübergemacht, in den Osten, 1987.
Ein Leben in Schweden, unter falschen Identitäten, spätestens ab 1992.
Und jetzt, zwanzig Jahre später, waren alle tot.
So viel Alkohol und andere Substanzen konnte man gar nicht in einer Nacht konsumieren, dass das einen Sinn ergab. Wieso sollten Stasi-Agenten eine Bank überfallen? Wieso sollten sie in die DDR einwandern? Und wenn es keine Stasi-Leute waren, warum dann die getürkten Lebensläufe? Eine Bank überfiel man, um sich materiell zu bereichern. Aber das tat man doch nicht unmittelbar bevor man in den real existierenden Sozialismus auswanderte. Ihr kam eine Traube betrunkener Jugendlicher entgegen. Ein Mädchen im Minirock gackerte, ein Junge versuchte, im Gehen ein Rad zu schlagen, aus einem in die Luft gehaltenenen Handy plärrte Hip-Hop. Aus einer Bäckerei roch es nach frisch gebackenen Brötchen. Ein Mann führte seinen Hund spazieren, einen Terrier. An einem Kiosk hing Zeitungswerbung, die Schlagzeilen des Vortages.
Neue Pannen in der NSU-Ermittlung
NSU, dachte sie. Nationalsozialistischer Untergrund. Die rechtsradikale Terrorzelle hatte Banken überfallen, um ihr Leben im Untergrund zu finanzieren. Ihr feiges Morden an Menschen, die anders aussahen, die eine andere Herkunft hatten als sie. Neun Kleinunternehmer und eine junge Polizistin. Braune Armee Fraktion, hatte die Presse getitelt.
1986 hatte es den NSU natürlich noch nicht gegeben.
Stina Forss blieb abrupt stehen. Der Terrier an der Leine auch. So als habe er ihre Gänsehaut gewittert.
Über dem Mauerpark ging eine rote Sonne auf.
11
Zeuner spürte es: Die lange Reise ging auf ihr Ende zu. Der Todesengel hatte seine Schwingen ausgebreitet und war wieder Richtung Süden geflogen. In tagheller Nacht, ins Herz der Finsternis. Wie in einer Erzählung von Joseph Conrad, dachte Zeuner. Wie in Apocalypse Now. Nur mit dem einen Unterschied, dass das Grauen nicht in den Tiefen des Kongo lag oder im Dschungel Indochinas, sondern irgendwo in Mittelschweden. Sie passierten Gävle, später Uppsala. Dann drangen sie in den Großraum Stockholm ein. Die Luft, die zum offenen Fenster des Wagens hereinströmte, roch nach Meer. Vor langer Zeit war hier in Stockholm vom sogenannten Kommando Holger Meins die deutsche Botschaft besetzt worden. Zeuner musste lächeln. Wie seltsam Geschichte doch war. Hätten
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