Rotwild: Der zweite Fall für Ingrid Nyström und Stina Forss (German Edition)
verboten war es, seiner müden, überarbeiteten Mitarbeiterin spontan Sonderurlaub zu geben. Und wenn ihre Mitarbeiterin diesen Sonderurlaub nutzte, um ihre alte Heimat zu besuchen, konnte dagegen ja wohl niemand etwas einwenden, oder?
Aber warum hatte Nyström trotzdem dieses unbestimmte Kribbeln, dieses ungute Gefühl im Bauch? Lag das an den Erfahrungen, die sie im Frühjahr mit der unberechenbaren jungen Frau gemacht hatte? Sie dachte an die Dienstwaffe, die sie Forss ausgehändigt hatte. Gott sei Dank konnte sie die nicht dabeihaben, sie war schließlich mit dem Flugzeug nach Berlin gereist. Trotzdem war es höchstwahrscheinlich ein Fehler, Forss auf den Wohnwagenhalter angesetzt zu haben.
Es war überhaupt nicht mehr ihr Fall!
Nur leider fühlte es sich überhaupt nicht so an. Auch wenn es ihr schwerfiel, es sich einzugestehen: Es war nichts anderes als Jagdinstinkt, der sie dazu veranlasst hatte, Stina Forss nach Berlin fliegen zu lassen.
8
Auch wenn Forss sich selbst riechen konnte: Zum Zähneputzen und Duschen war keine Zeit. Es ging um Minuten. Nach dem zweiten Tuten nahm Lehmann ab.
»Sie müssen mir einen Gefallen tun.«
Sie schlüpfte in Rock und T-Shirt, das Handy in der Hand, Lehmann in der Leitung. Sie hatte Glück, er arbeitete zu Hause an seinem Laptop. Zwei Minuten später hatte er im Intranet der Berliner Polizei den Halter von Wagen und Wohnwagen ausfindig gemacht. Ein Berliner Kennzeichen. Das konnte kein Zufall sein. Er nannte ihr eine Adresse in Marzahn-Hellersdorf.
»Was haben sie vor?«, fragte Lehmann.
Ohne zu antworten legte sie auf und schob sich zwei Kaugummi und zwei Aspirin in den Mund. Es knackte beim Kauen. Vor dem Hoteleingang stand eine Schlange Taxis. Sie stieg in das erste ein und nannte der Fahrerin die Adresse. Sie erntete einen schrägen Seitenblick, dann fuhr das Taxi los, ostwärts, die Karl-Marx-Allee hinunter. Forss musste an das Buch denken, das sie aus Dahlins Wohnung mitgenommen hatte, Das Kapital . Eine Woche war das her. Jetzt lag das Buch auf ihrem Nachttisch in Majs Haus, gleich neben Sebastians Brief. Die ganze Nacht hatte sie dagegen angetanzt und angesoffen, einfach zu ihm zu gehen und zu klingeln. Nun hatte sie Kopfschmerzen, aber der Gedanke an ihn war immer noch da. Also dachte sie schnell an etwas anderes. Von Marx’ Kapital zur Roten Armee Fraktion in einer Ermittlungswoche. Konnte das wirklich stimmen, was sie sich da in den frühen Morgenstunden zusammengegoogelt hatte? Auf jeden Fall war es eine Hypothese, die das Gespräch mit Bröring nicht widerlegt hatte. Im Gegenteil. Sie dachte an das Jugendfoto Dahlins, von dem Nyström eben am Telefon gesprochen hatte. Die junge Wackersdorf-Clique. Denkbares Szenario: Der linke Rebell und Atomkraftgegner Janus Dahlin kommt zu Beginn des Jahres 1986 zum Studium nach Hamburg. Bald findet er an der Universität Anschluss an politisch gleichgesinnte Kommilitonen. Froh, dem Einfluss seiner bürgerlichen Familie und dem piefigen Linköping entkommen zu sein, blüht er im Umfeld der Großstadtuniversität auf. Man diskutiert gemeinsam, druckt Flugblätter, besucht Demonstrationen. Der Protest gegen die umstrittene Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersdorf ist das große gesellschaftliche Thema, an dem sich vieles andere entzündet: Polizeigewalt, Atomstaat, Nachrüstung. Hunderttausend gehen in Wackersdorf auf die Straße, Protestcamps werden eingerichtet und später durch die Polizei gewaltsam geräumt, für 15 Millionen D-Mark wird ein Sicherheitszaun gebaut. Es kommt zu Hausdurchsuchungen, Demonstrationsverboten, Einsatz von CS-Gas, bei dem ein asthmakranker Demonstrant ums Leben kommt. Die bayerische Regierung unter Führung von Franz-Josef Strauß untersagt österreichischen Demonstranten den Grenzübertritt. Bei dem Absturz eines Polizeihubschraubers kommt ein Polizist ums Leben. Die Presse schreibt von bürgerkriegsähnlichen Szenarien. Im selben Jahr ermordet die RAF das Siemens-Vorstandsmitglied Karl-Heinz Beckurts, zuständig für die Wiederaufarbeitungsanlage Wackersdorf, und seinen Fahrer Eckhard Groppler durch eine Sprengbombe. Hatte sich die RAF in den Jahren davor mit Anschlägen auf NATO-Einrichtungen, bei denen immer wieder auch Unbeteiligte ums Leben kamen, so weit ins gesellschaftliche Abseits gebombt, dass sich bis auf den ganz harten Kern viele Sympathisanten kopfschüttelnd und moralisch empört abwandten, versucht sie nun, mit der Anti-Atombewegung ein neues soziales Thema zu erschließen
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