Rotwild: Der zweite Fall für Ingrid Nyström und Stina Forss (German Edition)
Toyota in die Stadt. Etwa fünfzig Menschen hatten sich am Samstagmorgen zu der Bestattung von Janus Dahlin am Teich unter den Kiefern auf dem Skogslyckans-Friedhof am Mörnersväg eingefunden. Nyström hielt sich im Hintergrund. Sie erkannte Dahlins Lebensgefährtin Sara Saale, den Schulleiter Verner Ferm und Dahlins Bruder Frederik aus Linköping. An seiner Seite saß eine ältere, gebeugte Frau, wahrscheinlich die Mutter. Dahlins Vater war nicht anwesend. Auch Magnus Hasselgreen war mit seinen Eltern da, ebenso einige andere Teenager, wahrscheinlich Schüler von Dahlin. Ein großer, muskulöser Mann mit einem wütenden Blick, der sich als Martin Högvall vorstellte, leitete die Andacht, einen Geistlichen gab es nicht. Die Urne, in der sich die Asche von Dahlins Leichnam befand, war auf einem Sockel aus Granitsteinen aufgebahrt. Nach einer kurzen Rede, in der Dahlin als aufrichtiger Mensch und treuer Kämpfer der sozialistischen Sache beschrieben wurde, reckte Högvall seine geballte Faust in den Himmel. Drei, vier der Anwesenden taten es ihm nach, andere schauten zu Boden. Lautsprecher auf Stativen spielten Die Internationale , einige der Trauernden summten leise mit. Eine attraktive, junge Frau mit blondem Haar begann laut und schrill zu weinen, Sara Saale warf ihr einen merkwürdigen Blick zu. Verner Ferm legte gemeinsam mit einem anderen Mann, den Nyström nicht kannte, vermutlich ein Lehrerkollege, einen Kranz vor den Steinsockel. Schließlich trat Frederik Dahlin nach vorne und verlas ein Gedicht, das sich an der Bibelgeschichte von dem verlorenen Sohn orientierte. Noch einmal wurde Musik gespielt, diesmal Jazz. Die weinende Blondine wurde von einem jungen Mann mit Heavy-Metal-Frisur weggeführt, woraufhin sich auch der Rest der Gruppe langsam aufzulösen begann. Nur Saale, Frederik Dahlin und seine Mutter blieben zurück. Über den sonnenbeschienenen Rasen hüpften Elstern. In den Kiefern klopfte ein Specht. Saale und die Dahlins gaben sich die Hand, unterhielten sich eine Weile, dann nahm die schöne Frau den Mann, der seinem verstorbenen Bruder überhaupt nicht ähnelte, in den Arm. Anschließend drückte sie Dahlins Mutter an sich. Jetzt erst weinten die Frauen, die sich wahrscheinlich vorher nie begegnet waren. Nach einer Minute oder zwei lösten sie sich aus der Umarmung. Frederik legte seiner Mutter einen Arm um die Schulter. Mitarbeiter des Beerdigungsinstituts waren schon dabei, die bereitgestellten Stühle und die Lautsprecheranlage abzubauen. Nyström trat zu der Dreiergruppe und sprach ihr Beileid aus. Frederik erklärte seiner Mutter, dass Nyström die ermittelnde Kommissarin sei. Nyström entschied sich, Dahlin nicht zu korrigieren. Offiziell hatte sie mit der Ermittlung nichts mehr zu tun. Die Dame in dem schwarzen Kleid sah sie lange und durchdringend an.
»Du warst nicht bei uns zu Hause«, stellte sie schließlich fest.
Es klang wie ein Vorwurf, fand Nyström, vielleicht ein berechtigter.
»Wir hatten hier sehr viel zu tun. Die Kollegen aus Linköping ...«
Sie hob die Arme und ließ sie wieder fallen. Was sollte sie sagen?
»Schon gut.«
Die Augen der alten Frau glänzten wie die dunkle Brosche am Revers ihres Kleids.
Wieder klopfte der Specht. Vom Mörnersväg her war der Autoverkehr zu hören. Växjö erwachte aus dem Mittsommerkater. Die Frau griff in ihre Handtasche und zog einen Umschlag heraus.
»Das hier habe ich jahrelang gehütet wie einen Schatz. Ich musste es vor meinem Mann verbergen, er hat den Schmerz nicht ertragen. Janus’ Abkehr von uns. Es ist das letzte Bild, das ich von ihm habe. Ich finde, er sieht glücklich aus darauf. Jetzt brauche ich es nicht mehr.«
Sie reichte Nyström den Briefumschlag.
»Er hat es mir aus Deutschland zugeschickt, 1986 war das. Darauf ist die Clique, mit der er sich rumtrieb. Ich glaube, es waren seine engsten Freunde.«
»Vielen Dank, ich ...«
»Schon gut. Wenn du zu uns gekommen wärst, hättest du es schon vor einer Woche haben können. Deine Kollegen aus Linköping hat es nicht interessiert.«
»Was ...?«
Aber die alte Frau hatte sich bereits umgedreht. Ihr Sohn und Sara Saale nahmen sie in die Mitte und langsam gingen sie im Schatten der Kiefern in Richtung des Parkplatzes, wo die Journalisten mit ihren Kameras warteten. Nyström sah ihnen nach. Sie dachte über den letzten Satz nach, den die alte Dame gesagt hatte. Sie zog das Foto aus dem Umschlag. Es zeigte fünf junge Menschen, die in die Kamera lachten, drei Frauen und
Weitere Kostenlose Bücher