Rotwild: Der zweite Fall für Ingrid Nyström und Stina Forss (German Edition)
zwei Männer. Trotz der unmodischen Frisuren und den vielen Jahren, die seit der Aufnahme vergangen sein mussten, erkannte sie drei der Gesichter sofort.
5
Lange stand Nyström so da und starrte auf das vergilbte Foto. Fünf junge Menschen und drei von ihnen waren tot, auf grauenhafte Weise ermordet worden. Hatten diese fünf jungen, fröhlichen Menschen tatsächlich etwas mit der ostdeutschen Stasi zu tun? Sollten sie tatsächlich andere Leute ausspioniert und Staatsgeheimnisse verraten haben? Irgendwie konnte sie sich das nicht vorstellen. In ihrer Fantasie waren Stasi-Agenten farblose, rauchende Männer in grauen Anzügen, was natürlich Blödsinn war. Aber diese gut gelaunte Clique, die in ihren Norwegerpullis und quietschgelben Regenjacken in die Kamera lachte? Auch im Hintergrund waren Menschen zu sehen, Eltern mit Kindern, Teenager, Männer mit langem Haar und Bärten. Eine Art riesiges Zeltlager, Fahnen im Wind, rote Sonnen auf gelbem Grund. Nyström verstand: ein Protestcamp gegen Atomkraft, irgendwo in Deutschland. Die Fotografie war eine Ohrfeige für Dahlins Vater und das, was er tat. Ein Manifest der Lossagung. Deshalb hatte die Mutter das Bild über Jahre versteckt. Plötzlich durchfuhr sie ein Gedanke, ein Alarmsignal. Dahlin und der Mann und die Frau, die in Schweden unter den Namen Andersson und Hakelius gelebt hatten, waren bereits tot. Aber was war mit den anderen beiden Frauen auf dem Bild? Wer war dieses robuste Mädchen mit den schwarzen Pudellöckchen? Wer war die Frau mit dem langen braunen Haar und dem intensiven Blick? Schwebten die beiden in Lebensgefahr? Waren sie vielleicht schon tot? Das Klingeln ihres Handys riss Nyström aus ihren Gedanken. Es war Tomas Raipanen. Er fragte sie, ob sie wütend auf ihn sei. Nein, antwortete sie. Er habe schließlich nur nach Vorschrift gehandelt, als er die Ermittlungsergebnisse an die Säpo und die Reichskrim weitergeleitet habe. Und vielleicht wäre der Fall ja wirklich eine Nummer zu groß für zwei Provinzpolizisten. Raipanen berichtete, dass er und seine Männer ebenfalls von der Ermittlung abgezogen worden seien. Wenigstens ein freies Mittsommerwochenende! Beide lachten. Dann wurde Raipanen wieder ernst.
»Ich rufe dich aber eigentlich aus einem anderen Grund an. Höchst inoffiziell, versteht sich. Vielleicht interessiert es dich noch, auch wenn sie dich kaltgestellt haben: Ich habe eben einen Anruf bekommen, von einem ehemaligen Kollegen, der jetzt für die Reichskrim arbeitet.«
»Höchst inoffiziell wahrscheinlich.«
»Natürlich. Das Wohnwagengespann, nach dem ihr gefahndet habt, wurde gerade gefunden. Du weißt schon, es gab doch diese Zeugenaussage von einem Nachbarn Anderssons aus Lessebo. Jetzt ist so ein Wohnwagen aufgetaucht, in einem Wald in der Nähe von Stockholm.«
»Der alte Mercedes mit Wohnwagen?«
»Genau. Das Zigeunergespann .«
»Aber woher weiß man, dass der gefundene Wagen etwas mit dem Fall zu tun hat? Nur weil ein x-beliebiger Wohnwagen ...«
»Der Wagen fiel überhaupt nur deshalb einer Streife auf, weil Spaziergänger in der Nähe Schüsse gehört hatten. Auf dem Beifahrersitz des Autos lag ein Magazin für ein automatisches Schnellfeuergewehr. Und der Wagen hat ein deutsches Kennzeichen.«
6
Stina Forss wachte vom Klingeln ihres Handys auf. Für einen Moment wusste sie nicht, wo sie war, dann gewann sie die Orientierung zurück. Berlin, Alexanderplatz, Hotelzimmer, 34. Stock. Fast schon im Himmel. Das Display des Mobiltelefons zeigte kurz nach elf, sie hatte vier Stunden geschlafen. Sie nahm das Gespräch an. Ihr Kopf dröhnte. Es war Nyström.
»Es gibt einen ganzen Haufen Neuigkeiten, Stina.«
»Das kannst du aber laut sagen«, murmelte Forss in das Kopfkissen.
7
Was mache ich hier eigentlich, fragte sich Nyström, nachdem sie das Gespräch beendet hatten. Was mache ich hier, um alles in der Welt? Ich stehe mit meinem Krebs, den ich habe oder möglicherweise auch nicht, auf einem Friedhof und unterlaufe eine unmissverständliche Dienstanweisung. Ich gestatte einer mir unterstellten Mitarbeiterin weiterzuermitteln. Nein, ich ermutige sie dazu. Und das nicht nur außerhalb ihres Bezirks, sondern sogar außerhalb des Landes. Das brach mindestens zehn verschiedene Vorschriften und ein internationales Abkommen. Gut, noch hatte Forss anscheinend ja nichts ausgefressen. Noch hatte sie sich nur mit einigen ehemaligen Kollegen ausgetauscht, Leute getroffen, das war ja schließlich nicht verboten. Genauso wenig
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