Rotwild: Der zweite Fall für Ingrid Nyström und Stina Forss (German Edition)
nichts zu sagen. Oder so viel, dass es nicht in Sätze, in diesen hohen, hellen Raum, in den Rest seines Lebens passte. Dann fiel ihm doch etwas ein.
»Wie schön, dass du lebst. Du ... warst in großer Gefahr. Dieser Mann ...«
Ihr Lächeln öffnete sich. Weise, mild. Täuschte er sich, oder schüttelte sie leicht den Kopf?
»Ich war vorbereitet. Ich habe ihn erwartet, Kurt. Die Überraschung bist du.«
Sie lachte. Ihr Mädchenlachen.
»Eine schöne Überraschung. Von Jan-Erik soll ich dir sagen, dass es ihm leidtut. Das mit dem Elektroschocker. Er ist schnell und konnte ja nicht ahnen, dass wir beide uns kennen.«
Zeuner nahm seinen Mut zusammen.
»Ist er so etwas wie dein Liebhaber?«
»Jan-Erik?«
Wieder lachte sie.
»Oh Gott, nein. Wohl eher eine Art persönlicher Assistent.«
Sie schwiegen für einen Moment.
»Weißt du, dieser Mann, der dich töten wollte, er war an dem Tag damals in der Bank«, sagte Zeuner dann.
»Osterode«, sagte sie.
Er nickte.
»Ich habe meine alten Protokolle aus Briesen durchgesehen. Etwas anderes konnte es einfach nicht sein. Später habe ich seine Aufzeichnungen gefunden, eine Art Manifest. Er war der Mann der Kassiererin, sie haben gemeinsam ein Kind erwartet, sie war im fünften Monat schwanger. Er war an dem Tag ebenfalls in der Bank. Sie waren Kollegen. Danach hat es ihn aus der Bahn geworfen und er hat sein ganzes Leben in Anstalten verbracht. Auf diesen Wahnsinn mit den Märtyrern ist er wohl durch irgendeinen Priester mit apokalyptischen Fantasien gekommen, wahrscheinlich einen Mitpatienten.«
Sie schüttelte langsam den Kopf.
»So ein Irrsinn und das alles nur wegen eines unbedachten Augenblicks. Als die Kassiererin damals den Alarm auslöste und ich geschossen habe, ging alles durcheinander. Marlene hat sich schlimm den Kopf gestoßen und dann auch noch in dem Chaos ihre Maske verloren. Er muss sie nach all den Jahren wiedererkannt haben. Ich habe nach ihrem Tod natürlich reagiert. Recherchiert. Ich war sogar bei den anderen und habe sie gewarnt. Janus, Hans-Peter und Susanne. Aber sie wollten nicht auf mich hören. Keiner wollte etwas tun. Sie klebten fest in ihren kleinen Leben. Vielleicht waren sie auch des Fliehens müde. Janus hat sich, glaube ich, nach Susanne gesehnt, er kam mir rastlos vor. Hans-Peter sammelte Comics und machte Musik im Internet. Wir haben in seinem heruntergekommenen Garten Kuchen gegessen. Und Susanne hatte zwei Kinder und einen Ehemann.«
Sie tupfte ihm mit einem Taschentuch Schweiß von der Stirn, dann fuhr sie fort.
»Vor etwa einem Jahr hatte Marlene einen Schlaganfall. Sie war anschließend in einem Reha-Programm im Harz. Nicht in Osterode, sondern in Clausthal-Zellerfeld. Dort hat dieser Mann, Johannes Breuer, in einem Kurbad gearbeitet, das auch langjährige psychisch Kranke anstellt und ihnen bei der Wiedereingliederung ins Berufsleben hilft. Ich vermute, dass sie sich dort begegnet sind. Ein halbes Jahr später ist dieser Breuer verschwunden und kurz danach war Marlene tot.«
Sie streichelte seine Wange.
»Du bist so alt geworden Kurt. Es ist so lange her.«
Ihre Augen, ihr Duft.
»Ich weiß«, sagte er. »Ich weiß.«
Sie schlug ihre Beine übereinander. Sie trug ein sehr edel aussehendes Kostüm. In ihrem kurzen, dunklen Haar blitzten Ohrringe auf, blau und gold.
Sie nahm seine großen, rauen Finger in ihre kleinen Hände und massierte sie. Seine Augen wurden feucht.
»Ich habe dich vermisst«, sagte er. »Auch wenn ich es sehr lange Zeit nicht wusste.«
Wie weich ihre Hände waren.
»Ich habe lange gebraucht, um zu verstehen, was vor sich geht«, sagte er. »Und dann wollte ich dich vor diesem Monster retten.«
»Danke«, flüsterte sie. Dann, nach einer Pause: »Wir haben dieses Monster selbst geschaffen. Vielleicht haben wir es verdient, so zu sterben. Wie Märtyrer.«
»Nein«, sagte er. Er richtete sich weiter auf. »Nein. So darfst du nicht denken. Er ... Osterode war ein Unfall.«
»Ja?« Sie sah ihm in die Augen. »Wie sicher bist du dir da? Warst du an diesem Tag dabei? Du denkst, wir haben es nicht verdient zu sterben. Aber was hast du dagegen getan? Du verfolgst ihn doch schon länger, wie hättest du sonst hierherfinden können? Susanne ist die Einzige gewesen, die wusste, wo ich heute lebe. Unter welchem Namen. Hast du ihn aufgehalten? Wo warst du, als Marlene starb? Oder Janus? Bei Hans-Peter und Susanne?«
Sie hatte ihn durchschaut. Da war kein Vorwurf in ihrer Stimme. Aber sie hatte ihn
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