Rotwild: Der zweite Fall für Ingrid Nyström und Stina Forss (German Edition)
vollkommen durchschaut.
»Ich wollte zu dir«, krächzte er schließlich. Er wusste, wie jämmerlich das klang.
Wieder lächelte sie. Sie war jetzt ganz nah bei ihm. Auf den matten Perlen, die ihren schlanken Hals umfassten, spiegelten sich die hohen, offenen Fenster wider, die sich irgendwo in seinem Rücken befanden.
»So bringen wir alle unsere Opfer«, sagte sie leise. »Für ein höheres Ziel.«
Er verstand nicht.
»Wie meinst du das?«
Ihre duftende, manikürte Hand rieb sein Kinn. Ihr Gesichtsausdruck hatte sich verändert. Sie sah jetzt anders aus, melancholisch. Ihr Blick ruhte nicht mehr auf ihm. Sie schaute aus den Fenstern, dorthin, wo die Schäreninseln wie die Rücken großer Tiere im Wasser lagen. Vielleicht schaute sie auch in die Zukunft.
»Ach, Kurt ...«, sagte sie.
»Wer bist du?«, fragte er zögernd.
13
Der Flug dauerte etwas über eine Stunde. Kurz vor dem Ziel konnte Nyström den beeindruckenden Stockholmer Schärengarten sehen, Tausende von Inseln in einem Blau, das ihr den Atem nahm. Wie schön Schweden doch sein kann, dachte sie, jedenfalls im Sommer. Sie landeten auf einem Parkplatz in einem Waldgebiet. Der Luftwirbel, den der Helikopter erzeugte, brachte die Tannenspitzen zum Tanzen, dann setzten die Kufen auf. Nyström war froh, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Der Einsatzleiter der Reichskrim, der sich als Bengt Welch vorstellte, gab ihr die Hand.
»Ich hoffe, du bist nicht wütend, dass wir in Växjö in deinen Zuständigkeitsbereich eingedrungen sind. Nimm es nicht persönlich.«
Er grinste.
»Wir haben ein Leben zu retten«, sagte Nyström knapp.
Welch setzte sie mit wenigen Worten ins Bild. Ein zweites Fahrzeug war sichergestellt worden, ein Wohnmobil, ebenfalls mit deutschen Kennzeichen, ganz in der Nähe des Wohnwagengespanns. Es war vollgepackt mit Waffen und Werkzeugen, darunter eine Harpune mit blutbeschmierten Griffen, Pfeile, eine Axt und eine Säge, ein Revolver. Massenhaft Fingerabdrücke. Haare. Alles schien zu den Tatorten in Växjö, Lessebo und in Nordschweden zu passen. Zudem hatte man in der Nähe des Wohnmobils Patronenhülsen und frische Blutspuren aufgespürt. Offenbar hatte es einen Schusswechsel gegeben. Die kriminaltechnische Auswertung lief bereits auf Hochtouren, ebenfalls die Kooperation mit den deutschen Behörden – zum einen natürlich wegen der Ermittlung der Fahrzeughalter, zum anderen war die Säpo darum bemüht, möglichst schnell den Hintergrund der wilden, haarsträubenden Stasi-RAF-Geschichte auszuleuchten, mit der sich Nyström wieder in das Zentrum des Geschehens eingekauft hatte. Sie spürte an der herablassenden Art Welchs, dass der ranghohe Beamte ihre Theorie, dass ehemalige deutsche Linksterroristen in den Fall verwickelt sein könnten, für Nonsens hielt, aber offenbar war der Druck innerhalb der Behörden mittlerweile so groß, dass sich keiner der Verantwortlichen dem Vorwurf aussetzen wollte, einem wichtigen Hinweis nicht nachgegangen zu sein. Auf das Foto, das die Wackersdorfer Clique zeigte, warf er nur einen kurzen Blick.
»Das Wohnwagengespann gehört einem Kurt Zeuner, wohnhaft in Berlin«, dozierte Welch. Nyström nickte beflissen, als sei ihr diese Information neu. »Viel mehr wissen wir noch nicht. Die Beziehung zwischen ihm und dem Wohnmobilhalter ist absolut rätselhaft. Es scheint tatsächlich, als habe er das Campingmobil verfolgt. Wir haben unter der Motorhaube einen leistungsstarken Peilsender gefunden und in Zeuners Mercedes das dazu passende Ortungsgerät. So ein Ding macht Aufzeichnungen wie ein Fahrtenbuch. Und jetzt halt dich fest: Dieser Zeuner scheint dem mutmaßlichen Täter von Lessebo bis nach Norsjö und dann zurück bis hierher gefolgt zu sein. Wie der Schatten eines Mörders. Aber was ergibt das für einen Sinn?«
Nyström musste an das denken, was Bo Örkenrud über den Tatort in Lessebo gesagt hatte. An die sich widersprechenden Spuren. Einerseits Sorgfalt und Ruhe, der Eindringling in Anderssons Haus hatte Handschuhe getragen. Anderseits Hektik und überall Fingerabdrücke. Zwei Personen, dachte sie. Es waren zwei Personen am Tatort gewesen, unabhängig voneinander. Und dann war da die Sache mit den rätselhaften Schussspuren an der Fassade des Doms und der Kirche. Das Magazin der Maschinenpistole war in Zeuners Wohnwagen gefunden worden, nicht in dem Wohnmobil. Nicht der Mörder hatte die Zeichen hinterlassen, sondern derjenige, der den Täter begleitet, beschattet oder
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