Rotwild: Der zweite Fall für Ingrid Nyström und Stina Forss (German Edition)
standen an der Anlegestelle der Brücke.
»Die Stahlseile sind glatt durchtrennt. Die sind mehrere Zentimeter dick. Das macht man nicht mal eben so mit einem Seitenschneider.«
»Krass«, sagte Delgado. Etwas anderes fiel ihm nicht ein.
»Muss eine Flex mit leistungsstarkem Akku gewesen sein«, knurrte Knutsson, »oder so was in der Art.«
»Na, jedenfalls ist die Brücke mittlerweile bis nach Öjaby getrieben und geborgen worden. Kam eben über Funk«, sagte Borg.
»Jo, da herrscht eine ordentliche Strömung auf dem See. Glaubt man gar nicht. Ich bin einmal mit meinem Boot und Motorschaden ...«
»Und der Hund?«, fragte Delgado. »Uns wurde etwas von einem toten Hund und Pfeilen und einer Menge Blut gesagt.«
»Gleich da drüben. Aber macht euch auf was gefasst. Da waren wirklich kranke Schweine am Werk, verrückte Tierquäler.« Borg schüttelte den Kopf. »Wahrscheinlich Jugendliche, wenn ihr mich fragt. Die mit ihren ganzen abartigen Computerspielen ...«
Knutsson brummte etwas in seinen Bart, was wohl vage Zustimmung zum Ausdruck bringen sollte.
»Ja, ja«, sagte Delgado.
Keine zehn Meter entfernt lag der Hundekadaver im hohen Gras. Ein Golden Retriever. Zwei Pfeile steckten in seiner Flanke, ein weiterer in seiner Schnauze. Zweifellos waren es die gleichen wie bei dem Toten in Humlehöjden: Aluminiumpfeile ohne Nocke und Befiederung.
»Verdammt«, grunzte Knutsson.
»Fuck«, sagte Delgado.
»Habe ich es euch nicht gesagt? Verrückte Tierquäler. Wahrscheinlich Jugendliche ...«
»Und die Kleidung?«
»Die ist gleich hier drüben. Seht ihr? Alles voller Blut. Zuerst fand ich es seltsam. Ich meine, dass die Teenager ihre Klamotten hiergelassen haben. Aber dann habe ich eine Erklärung gefunden. Deduziert, sozusagen.«
Borg sah die beiden Ermittler zufrieden an.
»Es hat nämlich einen Kampf gegeben. Zwischen den Jugendlichen und dem Hund. Ich stelle es mir so vor: Diese Verrückten haben dem Hund aufgelauert und dann ...«
»Bengt?«
Delgados Stimme war eisig.
»Ja?«
»Tu uns einen Gefallen.«
»Was denn?«
»Halt bitte mal kurz den Mund!«
Delgado hatte sich jetzt Handschuhe übergezogen und tastete die blutgetränkten Kleidungsstücke ab, die auf dem blättrigen Waldboden lagen. Ein Fleecepullover, eine Jeans, Unterwäsche, Wanderstiefel.
»Aber ...«
Borg sah Hilfe suchend zu Knutsson. Der schüttelte langsam seinen Kopf und legte dabei seinen Zeigefinger auf die Lippen.
»Bingo«, sagte Delgado. Er fischte ein Portemonnaie aus der Hintertasche der Jeans und klappte es auf. »Hier ist ein Führerschein. Janus Dahlin. Wohnhaft in Växjö, Skogstorpsvägen. ’60 geboren.«
»Vom Alter würde es passen«, sagte Knutsson.
»Aber dann waren es gar keine Jugendlichen«, sagte Borg, in sich gekehrt.
»So wie ich das sehe, haben wir einen Tatort«, sagte Delgado zu Knutsson. Dann wandte er sich an Borg: »Nichts für ungut, Bengt. Wir stehen ein wenig unter Strom. In Humlehöjden gibt es einen Mord. Und das Hundemassaker hier, die zerstörte Treidelbrücke und alles, das scheint in einem Zusammenhang dazu zu stehen.«
»Humlehöjden?«, sagte Borg. »Das ist doch gleich drüben am östlichen Ufer. Zwei, drei Kilometer. Mit dem richtigen Boot sind das keine fünf Minuten von hier.«
10
Das Boot der Wasserschutzpolizei sprang in weiten, harten Sätzen über das Wasser, die hohe Geschwindigkeit verwandelte die Wellen in Beton. Nyström klammerte sich an ihren Sitz. Neben ihr wehten die rotbraunen Locken von Stina Forss im Fahrtwind. Im Gegensatz zu ihr schien Forss die halsbrecherische Fahrt über den See nichts auszumachen, vielleicht genoss sie sie sogar. Die Sonne stand hoch am Himmel und das Wasser war belebt mit Motor- und Segelyachten, Surfern und Kajakfahrern. Direkt vor ihnen kreuzte ein Boot, das einen Wasserskisportler im Schlepptau hatte. Ein Tag wie aus dem Bilderbuch, dachte Nyström. Überall um sie herum und doch vollkommen weit entfernt. Ein Film, der irgendwo im Hintergrund lief, während sie sich in der Gravitation eines Verbrechens befand. In der Umlaufbahn eines grausamen Mordes. Das Zentrum hatte sie noch lange nicht erreicht. Dort würden sie den Täter finden.
Ein Täter, der ein Dutzend Pfeile in einen Mann geschossen hatte.
Der seinem Opfer die Knochen im Leib gebrochen hatte.
Sie war sich nicht sicher, ob sie überhaupt zu diesem Ort vordringen wollte. Aber genau das war ihre Aufgabe. Seltsamerweise gab die Präsenz der zierlichen Person neben ihr, dieser
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