Rotwild: Der zweite Fall für Ingrid Nyström und Stina Forss (German Edition)
Abdrücke der Schläge untersucht habe, ist mir noch etwas Ungewöhnliches aufgefallen. Ich wollte es zuerst nicht glauben, aber es war nicht von der Hand zu weisen. Ich habe schließlich sogar nachgemessen. Und es stimmte: Die Abstände der Wundmale sind in vielen Fällen exakt gleich.«
»Was bedeutet das?«
»Es gibt mehrere Abdrücke von Schlägen auf dem Körper, die genau vierundzwanzig Zentimeter auseinanderliegen. Doppelabdrücke sozusagen. Dazu kommt, dass die Ausrichtung der Kanten des Schlaggegenstands exakt parallel zueinander ist.«
»Wie kann man denn so genau zuschlagen?«
»Das habe ich mich auch gefragt. Irgendwann habe ich es dann verstanden. Die Abdrücke, die zueinanderpassen, sind nicht hintereinander entstanden, sondern gleichzeitig. Mit einem Schlag. Sie wurden mit einem scharfkantigen Gegenstand ausgeführt, der zwei Abdrücke im Abstand von vierundzwanzig Zentimetern hinterließ.«
»Aber was sollte das denn für ein Gegenstand sein?«
»Mein erster Gedanke war der an eine große Schraubzwinge oder so etwas in der Art. Aber dann ist mir noch etwas anderes eingefallen: ein Kreuz«, sagte Kimsel.
»Ein Kreuz?«
»Ja, ein Kreuz. Ich habe es selbst ausprobiert und nachgestellt, ganz provisorisch, mit zwei Linealen und etwas Tesafilm. Wenn man mit einem Kreuz in einem Fünfundvierzig-Grad-Winkel auf einen Körper oder eine Fläche schlägt, mit dem Querbalken nach vorne, dann treffen zwei Enden auf: die Spitze der Längsachse und die eine Spitze der Querachse. Einfache Physik.«
Kimsel schwang mit ihrem rechten Arm in der Luft herum, als führte sie Übungen für einen Tennisaufschlag vor. Nyström kratzte ihren Nacken.
»Ich weiß nicht recht ...«
»Aber das ist noch nicht alles, Ingrid.«
»Was?«
Kimsel trank von ihrem Tee, als wolle sie sich die Stimmbänder befeuchten, bevor sie antwortete.
»Die Exkremente auf Dahlins Körper. Sie stammen nicht von ihm. Und sie sind mit etwas vermischt, was man quartäre Ammoniumverbindungen nennt. So etwas benutzt man für Chemietoiletten.«
»Meine Güte«, flüsterte Nyström.
»Wenn du mich fragst, haben wir es mit einem Verrückten zu tun«, sagte Kimsel, »einem verrückten Klempner oder – und nimm das bitte nicht persönlich – einem durchgeknallten Priester oder so etwas in der Art.«
2
Das Vereinsheim des Bootsclubs lag linkerhand direkt hinter der schmalen Brücke, die Evedal mit Hissö verband, und war das einzige Gebäude auf der Insel. Von der Terrasse des schlichten braunen Holzhauses aus sah man auf den lang gezogenen, südlichen Ausläufer des Helgasees, der sich wie ein leicht gebogener Finger Richtung Växjö streckte. Das Wasser schillerte in der Sonne; in der Ferne waren kleine, dicht mit Tannen oder Kiefern bewachsene Inseln zu sehen. In der Bucht vor dem Clubheim dümpelten an einem T-förmigen Stegsystem vertäut gut drei Dutzend Boote. Wie friedliche weiße Tiere, dachte Lars Knutsson, der sich im Allgemeinen keinen besonders ausgeprägten Sinn für Poesie attestierte. Doch in Anbetracht der morgendlichen Stille auf dem See ergriff ihn überraschend ein kurzer, intensiver Augenblick der Rührung. Ihm war in diesem Moment, als geriete seine Seele ins Schwingen, für eine Sekunde, oder vielleicht auch zwei, in einen Gleichklang mit etwas, das größer war als er selbst, als der ewige See, an dessen Ufer er sein Haus gebaut hatte und seit vielen Jahren lebte, ja, möglicherweise sogar größer als die weitläufigen Wälder, die den See umgaben, als alles, was er Heimat, was er Småland oder Schweden nannte. Mit einer flüchtigen Gänsehaut stellte er fest, dass auf dem Parkplatz neben dem Vereinshaus abgesehen von seinem Pick-up nur drei weitere Autos standen. Trotzdem waren nur wenige der teuren und begehrten Bootsliegeplätze in der Bucht leer. Kein Wunder eigentlich, denn wer hatte schon an einem Montagmorgen kurz vor den Sommerferien die Muße und vor allem die Zeit, mit seinem Boot auf den See hinauszufahren? Der ein oder andere erfolgreiche Selbstständige vielleicht, gut verdienende Angestellte mit ungewöhnlichen Urlaubszeiten, aber vor allem Rentner mit Geld. Der Mann in Tennisshorts mit dem stahlgrauen Schnurrbart und dem Krokodillogo auf seinem rosafarbenen Poloshirt, der aus dem Gebäude auf die Terrasse trat und sich als Dag Henriksson vorstellte, gehörte wohl zur letztgenannten Gruppe.
»Feines Wetterchen heute«, flötete Henriksson.
»Auf einem feinen Fleckchen Erde«, ergänzte Knutsson und
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