Rotwild: Der zweite Fall für Ingrid Nyström und Stina Forss (German Edition)
Fähigkeiten war es erniedrigend und idiotisch. Dennoch machte er mit. Es ließ die Zeit vergehen. An den Wochenenden unternahm er lange Touren auf seinem Fahrrad im Nieselregen und versuchte, dem Ratschlag der hübschen Ärztin zu folgen.
In sein Herz sehen.
Was er sah, konnte ihm nicht gefallen.
Ein neunundfünfzig Jahre alter Mann, der den Rest eines leeren Lebens vor sich hatte. Die Erinnerung an eine alte Liebe. Und der Schatten eines Namens, der mit Helena in Verbindung stand. Das Gefühl ließ ihn nicht los. Er spürte, dass es wichtig war. In den Nächten lag er wach und lauschte dem schwachen Echo in seinem Kopf. Er forschte. Aber er kam nicht darauf. Es wurde Juni. Der Regen ging und plötzlich war der Sommer da.
Dann war der Anruf gekommen und Leonidas hatte ihm mitgeteilt, dass Janus Dahlin tot sei, auf grauenhafte Weise ermordet. Endlich verstand Zeuner. Alles fiel ihm wieder ein. Das, was sich in den letzten Wochen als vage, aber nagende Unruhe manifestiert hatte – und zwar jenseits seiner Entzugserscheinungen –, wurde zur Gewissheit. Eine andere Schlussfolgerung gab es nicht.
Der Nebel lichtete sich.
Dahinter tauchte der Name auf.
Alles ergab einen Sinn.
Er dachte an Helena und starrte auf den Hörer in seiner Hand. Leonidas hatte längst wieder aufgelegt. Er legte den Hörer zurück auf die Gabel. Sein erster Impuls war, aus dem Haus zu stürmen, eine Flasche Schnaps zu kaufen und sie sich die Kehle hinunterzuschütten. Aber das tat er nicht. Er holte stattdessen den alten Koffer unter dem Bett hervor, öffnete ihn und holte, was er brauchte, heraus. Die Waffen und das Geld.
MONTAG
1
Ingrid Nyström schlief sechs Stunden, dann stand sie auf, zog sich an und bereitete sich in der Küche ein einfaches Frühstück zu; Tee und Griesbrei mit Apfelmus. Sie schrieb einen Einkaufszettel für Anders, der meistens länger schlief als sie, was praktisch war, denn sie war morgens gerne allein. Nachdem sie gefrühstückt hatte, hängte sie im Keller Wäsche ab, füllte neue in die Maschine und schaltete sie ein. Anschließend fuhr sie aus dem kleinen Dorf Ör, in dem sie wohnte, die zwanzig Kilometer nach Växjö. Auf der linken Seite der Bundesstraße blitzte an mehreren Stellen zwischen den Bäumen der Helgasee in der Sonne auf. Kurz vor der Abfahrt zum Flughafen musste sie einem Fuchskadaver ausweichen, der auf der Fahrbahn lag. Obwohl es noch vor sieben Uhr war, war der Berufsverkehr bereits spürbar und sie brauchte eine gute halbe Stunde, bis sie auf den Parkplatz der Pathologie hinter dem Krankenhaus gelangte. Sie brachte ihren Toyota neben dem neuen VW-Beetle von Ann-Vivika Kimsel zum Stehen.
»Ich habe noch nie so einen eklatanten Fall von Übertötung gesehen. Wenn man die Finger dazuzählt, kommt man auf siebenunddreißig gebrochene Knochen. Einschließlich des Schädels. Dazu die schweren Verletzungen des Hirns, des Rückenmarks und der Organe durch die Pfeile: Herz, Leber, Milz, Magen, die linke Niere, du hast es ja selbst gesehen. Der Körper ist vollkommen zerstört, auch von innen.«
Nyström nippte an dem Tee, den Ann-Vivika Kimsel ihr eingeschenkt hatte. Während sie den Ausführungen ihrer Freundin zuhörte, betrachtete sie den gerahmten Druck von Miró, der über dem Kopf der Pathologin an der hell vertäfelten Wand hing: schwarze Flecken auf einem blauen Grund, dazwischen klaffte eine rote Linie. Wie eine Wunde. Wieder spürte sie das Ziehen in ihrer linken Brust.
»Bemerkenswert ist die Reihenfolge, in der man ihm die Verletzungen zugefügt hat. Zuerst kamen die Pfeile, zunächst nur drei. Man kann es an den Ausblutungen sehen, daran, wie das umliegende Gewebe reagiert hat. Fest steht, dass er danach noch gelebt hat. Dann kamen die Schläge, die mit einer vehementen Kraft und einem schweren, vierkantigen Gegenstand ausgeführt wurden. Er wurde zu Tode geprügelt. Erst anschließend hat der Täter die restlichen Pfeile in den Körper geschossen. Beinahe so, als wollte er noch etwas vervollständigen.«
Nyström dachte an die Abbildung des heiligen Sebastian, die Delgado ihr auf seinem Handy gezeigt hatte. Ein Szenario.
»Auf jeden Fall ist er sehr methodisch vorgegangen.«
Auch Kimsel trank von ihrem Tee. Sie hielt ihre Tasse mit beiden Händen, so als wolle sie sich daran wärmen. Sie wirkte müde und verfroren, dabei mussten es in dem Büro weit über zwanzig Grad warm sein. Nyström sah ihr an, dass sie die ganze Nacht hindurch gearbeitet hatte.
»Und als ich die
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