Rotwild: Der zweite Fall für Ingrid Nyström und Stina Forss (German Edition)
ähnliche Frisur wie sein Vater und einen ähnlichen taubengrauen Anzug, außerdem hatten beide weiße Hemden an. Nur in der Farbwahl der Krawatten schienen Vater und Sohn einen komplementären Geschmack zu haben: die eine war hellgrün, die andere rostrot. Nyström gab beiden Männern zur Begrüßung die Hand und brachte ihr Beileid zum Ausdruck, dann gingen sie hinüber in die Pathologie. Die eigentliche Identifizierung dauerte keine Minute. Ann-Vivika Kimsel hob das weiße Laken an, Kent und Frederik Dahlin nickten knapp, dann war der Moment vorüber. Nyström hatte sie vorher in wenigen Worten über den schlimmen Zustand des Leichnams in Kenntnis gesetzt, doch weder Vater noch Sohn zeigten beim Anblick ihres verstorbenen Kindes beziehungsweise Bruders eine erkennbare Reaktion. Stattdessen: Gesichter wie aus Stein. Aber das musste nichts heißen, wusste Nyström. Trauer konnte viele Nuancen haben. Was ihr allerdings auffiel, war, dass Kent und Frederik vor der Totenbahre weit auseinanderstanden. Oft suchten Angehörige in solchen Augenblicken intuitiv körperliche Nähe zueinander.
Anschließend nahmen sie im Trauerzimmer Platz. Nyström besorgte ein Tablett mit Kaffee, Keksen und Mineralwasser. Die Männer schenkten sich von den Getränken ein, nach Gebäck war niemandem zumute. Beide tranken ihren Kaffee schwarz und ohne Zucker. Nyström hielt sich an das Wasser. Sie wandte sich an Kent Dahlin.
Der alte Mann saß mit geradem Rücken auf seinem Stuhl. Eine militärisch anmutende Sitzhaltung, die auf ein hohes Maß an Selbstdisziplin schließen ließ, dachte Nyström.
»Wie war dein Verhältnis zu Janus?«, fragte sie.
Die Antwort kam schnell.
»Es gab keins«, sagte der alte Mann. Seine Stimme war leise, aber fest und bestimmt.
»Wir haben Janus seit beinahe zwanzig Jahren nicht gesehen«, fügte Frederik an.
»Und das war gut so«, sagte Kent.
»Leider«, sagte Frederik.
»Und warum ...?«
»Weil er ein Spinner war!«, fuhr es aus dem Vater heraus. Er kniff seine Augen zusammen. Das steinerne Gesicht von Kent Dahlin bekam einen Riss. Was dahinter zum Vorschein kam, war Verbitterung.
»Er ...« Frederik suchte nach Worten. »Er hat sich von uns entfernt. Von seiner Familie. Das fing schon an, als er ein Jugendlicher war. Von Papa und Mama und später auch von mir. Er hat nicht gutgeheißen, wer wir sind. Was wir machen. Mutter hat es das Herz gebrochen.«
Nyströms Blick wanderte zwischen Vater und Sohn hin und her.
»Wie meinst du das?«, fragte sie. » Was wir machen. Wer wir sind .«
»Wir sind Anwälte«, sagte Frederik. »Dahlin, Bildt & Runeberg, vielleicht hast du schon einmal von der Kanzlei gehört?«
»Nein, ich glaube nicht.«
»Eine der bedeutendsten Kanzleien Mittelschwedens«, sagte Kent. Sein Gesicht geriet immer mehr in Bewegung. Nyström fühlte, dass sie einen Nerv getroffen hatte. Vielleicht den neuralgischen Punkt einer traurigen Familienbiografie.
»Und womit arbeitet ihr? Ich meine, Anwälte sind doch nicht per se schlecht. Menschen brauchen Anwälte. Woher kam Janus’ Abscheu?«
Die Männer sahen sich lange an.
»Menschen brauchen auch Lobbyarbeit«, sagte Frederik dann. »Stromintensive Industrie braucht Lobbyarbeit. Stahlhütten, Aluminiumwalzwerke, Papierindustrie. Sie schafft Arbeitsplätze in Schweden. Und die kommen wiederum den Menschen zugute. Uns allen.«
»Was heißt das genau?«
»Wir beraten seit vierzig Jahren die schwedische Atomindustrie«, sagte Kent.
»Oh«, sagte Nyström.
Sie dachte an Oskarshamn, gerade einmal hundert Kilometer entfernt. Und an Forsmark, wo es vor sechs Jahren beinahe zu einer nuklearen Katastrophe gekommen war und eine Kernschmelze im letzten Augenblick verhindert wurde. Dabei hatte Schweden 1980 als erstes Land überhaupt den Atomausstieg beschlossen. Aber das war politisch längst wieder rückgängig gemacht worden. Vielleicht auch wegen der Arbeit von Menschen wie Kent und Frederik Dahlin.
»Janus hat das verurteilt«, sagte Frederik. »Deshalb hat er schon vor langer Zeit den Kontakt zu uns abgebrochen.«
»Weil er ein politischer Wirrkopf ist. Ein Spinner«, sagte der Vater. Wieder passierte etwas in seinem Gesicht. Falten gerieten in Bewegung. Seine Worte gingen in ein Wimmern über, dann flossen Tränen über sein Gesicht und Speichel rann über sein zerfurchtes Kinn. Sein Kopf, sein Körper bebte. Frederiks Mundwinkel zuckte. Kurz schnellte seine Hand vor in Richtung des Vaters, dann zog er sie wieder zurück, als gäbe
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