Rotwild: Der zweite Fall für Ingrid Nyström und Stina Forss (German Edition)
Paar, das ist richtig. Sie war sein Hafen, sozusagen. Aber er war ein Streuner, auf seine Art. Ein Erotomane, wenn man so will.«
»Und wusste sie von seinen Eskapaden?«
»Ich denke, ja. Sara ist ... eine kluge Frau.«
»Eine offene Beziehung?«
»So könnte man es nennen.«
»Weißt du noch von anderen Frauen?«
Sie hörte den Schatten, der ihr gegenübersaß, atmen.
»Vielleicht.«
»Auch Schülerinnen von ihm?«
»Nein! So war er nicht!«
Es kam mit Vehemenz. Dann:
»Vielleicht war es zwanghaft. Aber er hatte Grenzen.«
»Wo lagen die?«
Wieder sagte Högvall lange nichts. Schließlich:
»Ich arbeite nicht mit der Polizei zusammen.«
»Warum nicht?«
»Weil ... ihr gehört dazu.«
»Wozu?«
»Das System. Eure Aufgabe ist es, das System aufrechtzuerhalten.«
»Meine Aufgabe ist es, den Mörder von Janus Dahlin zu fassen.«
»Es geht immer um das System.«
»Ach ja?«
»Ja.«
Forss seufzte. Die merkwürdige sexuelle Spannung war weg. Plötzlich war sie gelangweilt und durstig.
»Was arbeitest du eigentlich?«, fragte sie.
»Ich bin Mathematiker«, sagte er. Es klang verärgert. »Das habe ich bereits am Telefon erzählt.«
»Ja. Aber was tust du als Mathematiker? Was ist deine Mathematik?«
»Ich beobachte und analysiere.«
»Was?«
»Wertpapiere.«
»Oh«, sagte Forss. Ihre Stimme hatte einen Unterton. »Das ist ja nicht gerade systemerhaltend.«
»Nein«, sagte Högvall. Er beugte sich nach vorne. Nun konnte sie wieder sein Gesicht sehen. Hübsche Lippen. »Das ist es ganz und gar nicht. Das System, wie wir es kennen, ist kurz vorm Zusammenbruch.«
»Aha«, sagte Forss. »Und woher weißt du das?«
»Ich habe es ausgerechnet«, sagte er.
14
Ingrid Nyström musterte lange ihre drei Mitarbeiter auf der anderen Seite des Schreibtischs. Ihr war alles andere als wohl bei dem Gedanken, einen sechzehnjährigen Jungen festzunehmen, als Tatverdächtigen in dem grausamsten Mordfall, mit dem sie je zu tun gehabt hatte. Mit sechzehn, da war man doch fast noch ein Kind. Ein Mensch, dessen Entwicklung gerade erst begonnen hatte. Es war noch gar nicht so lange her, dass ihre Tochter Anna sechzehn gewesen war. Und davor Marie und Sophie.
Andererseits: Die Indizien sprachen gegen Magnus Hasselgreen. Die Tierquälereien, die oft ein Hinweis auf schwere, psychische Störungen waren. Die Tatsache, dass er bei der Befragung in Humlehöjden verschwiegen hatte, dass Dahlin sein Lehrer war. Überhaupt seine Anwesenheit am Fundort des Leichnams. Seine Erfahrung im Umgang mit Pfeilwaffen. Die martialischen Fotos auf seiner Facebook-Seite, die beklemmend an die bekannten Selbstinszenierungen von Amokläufern erinnerten.
»Ich kann dein Zögern verstehen, Ingrid. Aber er ist es«, sagte Delgado.
»Er muss es sein«, bekräftigte Hultin.
»Wirklich alles spricht dafür«, sagte Lindholm.
Durch das Panoramafenster in Nyströms Rücken fiel der Schein der hochstehenden Sonne auf die Gesichter der drei jungen Ermittler. Hultin und Lindholm blinzelten, Delgados olivfarbene Haut leuchtete. Obwohl es draußen an die dreißig Grad sein musste, fröstelte Nyström. Seit Mittag arbeitete die Klimaanlage in der oberen Etage wieder, war jedoch viel zu kühl eingestellt.
»Hugo und Anette, ihr beiden holt ihn zum Verhör«, sagte sie. »Bringt die Eltern mit. Kein Blaulicht, kein Rollkommando und um Gottes willen so, dass kein Journalist davon Wind bekommt. Das Letzte, was diese Ermittlung gebrauchen kann, ist das Foto eines Teenagers in Handschellen auf einer Titelseite.«
15
Als Stina Forss von Högvalls Hof fuhr, war es noch früh am Nachmittag. Die Begegnung mit dem Mathematiker hatte etwas in ihr ausgelöst, etwas Körperliches. Etwas, was sie schon lange nicht mehr gespürt hatte. Etwas, das wenig mit den freundschaftlichen Gefühlen zu tun hatte, die sie zum Beispiel für Oleg empfand.
Es war etwa drei Jahre her, dass sie Sebastian kennengelernt hatte, in einem verregneten Sommer in Berlin. Die Stadt lag seit vier Monaten hinter ihr und Sebastian auch. Das hatte sie endgültig entschieden, in einem finalen Moment der Erkenntnis. Zu viel war geschehen, zu viel Gewalt hatte sie Sebastian angetan. Die Vase, die sie ihm ins Gesicht geschleudert hatte, die bescheuerte, finnische Designervase, drei Kilo gewelltes Glas und Wasser und Gladiolen, ausgerechnet Gladiolen, wie in einem dieser melodramatischen Songs von Morrissey. Diese Attacke und Sebastians Krankenhausaufenthalt waren der Schlusspunkt einer Reihe
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