Rotwild: Der zweite Fall für Ingrid Nyström und Stina Forss (German Edition)
aus einer Düse, die sich in dem Ausleger befand, und füllte die erste Tasse akkurat bis zur Mitte. Franzén ließ seinen Zug ein Stückchen vorfahren, dann wurde die zweite Tasse gefüllt. Wieder setzte sich die Lok in Bewegung und fuhr durch Felder und Wäldchen in einem Bogen zu der Stelle, wo der verdatterte Knutsson stand.
»Voilà!«, strahlte Franzén. »Der Espresso-Express! Milch oder Zucker?«
13
Hultins Befragung der Nachbarn begann nicht sonderlich ergiebig. Die Leute, die sie zu Hause antraf, kannten Olof Andersson kaum. Zwei ältere Frauen erzählten unabhängig voneinander, dass er im letzten Jahr auf einem Straßenfest gewesen sei – allerdings nur für eine halbe Stunde. Er habe eine Tasse Kaffee getrunken und ein Stück Kuchen gegessen, dann sei er wieder in sein Haus zurückgeschlurft. Ein anderer Nachbar berichtete, dass er Andersson mehrfach Hilfe bei der Reparatur der kaputten Dachrinne angeboten habe, jedoch habe der Briefträger jedes Mal höflich, aber bestimmt abgelehnt. Auch konnte sich keiner der Anwohner daran erinnern, dass Andersson jemals Besuch empfangen habe. Es verdichtete sich das Bild, dass er sehr zurückgezogen gelebt und wenig Kontakt zu seinen Mitmenschen gesucht hatte.
Als sie das letzte Haus der Straße erreichte, sah sie aus den Augenwinkeln den Schatten eines Kindes um die Ecke verschwinden. Auf der Auffahrt lag ein Fahrrad auf den Pflastersteinen, das Hinterrad drehte sich noch. Sie erkannte es wieder. Es war das rotgoldene Mountainbike, das dem kleinen Frechdachs von vorhin gehörte. Sie klingelte und eine hochschwangere Frau Mitte zwanzig öffnete ihr. Sie schmunzelte.
»Bist du die Polizistin?«
Hultin nickte.
»Pontus denkt, du willst ihn verhaften. Ich glaube, er hat sich im Wäschekorb verkrochen, wie immer, wenn er etwas ausgefressen hat.«
Hultin lächelte.
»Vielleicht lassen wir ihn dort für einen Augenblick.« Mit einem Blick auf den beachtlichen Bauchumfang der jungen Mutter meinte sie: »Sollen wir uns irgendwo hinsetzen?«
Die Frau bejahte. Sie führte Hultin auf die Terrasse, wo unter einem Sonnenschirm Gartenstühle mit geblümten Polsterauflagen standen. Hultin erzählte vom gewaltsamen Tod Anderssons.
»Ein Mord? Hier bei uns in Lessebo?«
Die Frau hielt sich eine Hand vor den Mund. Die andere Hand lag auf ihrem Bauch.
»Natürlich haben wir noch keine abschließenden Ermittlungsergebnisse, aber im Moment scheinen die gerichtlich verwertbaren Indizien auf ein Gewaltverbrechen hinzudeuten.«
Wie redete sie? Hultin merkte, dass sie Phrasen benutzte. Wie ein Schutzschild, dachte sie. Ein Schutz für die Mutter, ihr ungeborenes Kind und auch für den liebenswürdigen, kleinen Kerl im Wäschekorb. War das nicht ihre Aufgabe als Polizistin? Die Menschen, die Familien zu beschützen? Schwedische Werte? Oder ging es hier um etwas anderes? Wehrte sie etwas ab, das vor allem mit ihr selbst zu tun hatte? Behütete sie etwas in sich selbst? Etwas, das der Anblick der Schwangeren in ihr ausgelöst hatte? Eine Hoffnung, einen Wunsch? War es wirklich richtig gewesen, dass sie sich im letzten Herbst für die Abtreibung entschieden hatte? Die kurze, heftige Beziehung zu Hugo Delgado war ein Fehler gewesen, sie war anstrengend gewesen und hätte keine Zukunft gehabt. Und ein Kind, das ohne Vater aufwächst ...?
Hultin musste sich zwingen, sich von ihren Gedanken loszureißen.
»... wie gesagt, ich kannte ihn kaum. Morgens ist er mit seinem Postwagen zur Arbeit und nachmittags kam er zurück. Aber darüber hinaus?«
Die junge Frau hatte jetzt beide Arme um ihren Bauch geschlungen.
Schutz, dachte Hultin erneut. Sie hat dazu jedes Recht der Welt.
»Und wie soll es jetzt weitergehen für uns hier in der Straße? Ist die Lage bedrohlich? Schweben wir in Gefahr?«
»Die polizeiliche Ermittlungssituation ist momentan dergestalt, dass ich wirklich nicht ...«
Sie biss sich auf die Zunge. »Ich will dich nicht beunruhigen, aber am besten fahrt ihr für ein paar Tage ... Gibt es Verwandte?«
»Ich habe eine Schwester in Kalmar, aber ...«
»Vielleicht wäre das was«, sagte Hultin bestimmt.
Sie stand auf. Dann fiel ihr eine Sache ein, die sie beinahe vergessen hatte.
»Du hast nicht zufällig heute Nacht etwas Ungewöhnliches bemerkt? Jemanden auf der Straße? Andere Geräusche? In den frühen Morgenstunden?«
Die Frau wirkte aufgebracht, erschrocken. Gleichzeitig aber auch konzentriert. Hultin tat es leid. Gerne hätte sie ihr die Aufregung, die Angst
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