Rotwild: Der zweite Fall für Ingrid Nyström und Stina Forss (German Edition)
Briefkasten neben dem Eingang werfen, wenn er sowieso noch zu Hause ist, habe ich gedacht. Dort verknicken sie doch nur. Da kann ich sie ihm besser gleich in die Hand drücken. Ich habe also nach ihm gerufen.«
Sie stockte. Ihr Blick hatte sich bei den Spatzen in der Lärche verfangen.
»Aber er hat nicht geantwortet«, sagte Nyström.
»Nein.«
»Und dann hast du dir Gedanken gemacht und bist ins Haus?«
»Ja.«
»Und dann hast du noch mal gerufen?«
»Ja.«
»Bis du ihn schließlich im Wohnzimmer gefunden hast?«
Amina Ducaj nickte. Sie begann zu weinen, die Erinnerung überwältigte sie. Ihr Körper bebte. Der Pudel sprang erschrocken von ihrem Schoß. Razija legte ihrer Schwester die eine Hand auf den Rücken. Mit der anderen fasste sie nach Aminas Handgelenk.
»Er hätte doch im Garten sein können«, schluchzte sie. »Warum war er denn bloß nicht im Garten und hat die Blumen gegossen?«
Weil er gar keine Blumen hatte, dachte Nyström. Und auch sonst wenig Schönes, vielleicht mal abgesehen von seinem Aquarium. Aber das sagte sie natürlich nicht. Sie sagte gar nichts, sondern wartete auf Amina Ducaj. Darauf, dass der innere Kompass der Frau sie an den grauenhaften Erinnerungen entlangführte. Dorthin, wo die wichtigen Dinge waren, die sie über Andersson wusste. Wenn es sie denn gab.
Razija nahm eine Zigarette aus der Schachtel, die auf dem Tisch lag, und zündete sie an. Dann reichte sie sie ihrer Schwester. Nyström hatte wenig Umgang mit Rauchern, sie kannte die Geste aber aus Kinofilmen. Dort war es ihr immer sehr pathetisch vorgekommen. Jetzt fand sie sie zärtlich, liebevoll. Amina zog dankbar den Rauch ein. Still rauchte sie die Zigarette. Nyström kniff sich in den Oberschenkel. Sie durfte ihrer Müdigkeit nicht nachgeben. Sie musste aufmerksam bleiben. Jedes Wort konnte wichtig sein. Von entscheidender Bedeutung, dachte sie. Oder vollkommen nebensächlich.
»Er hatte ja gar keine Blumen«, sagte Amina leise. »Wir waren im letzten Jahr einmal bei ihm zu Hause gewesen, um seinen fünfzigsten Geburtstag zu feiern. Pelle, ich und zwei andere Kollegen aus Kosta. Es war eine Art Überraschungsfest. Wir wussten ja, dass er sonst keine Freunde hat. Er lebt ja so zurückgezogen. Jedenfalls, dieses Fest, es war ein Reinfall. Die Stimmung war fürchterlich. Er hat sich so unwohl gefühlt. So, als würde er gar nicht Geburtstag haben. So, als habe er die Aufmerksamkeit nicht verdient. Dabei war es sein Fünfzigster! Nach zwei, drei Stunden sind wir wieder gegangen. Wir hatten Geld gesammelt und Pelle hatte extra Wein und Bier gekauft, aber noch nicht mal der Alkohol konnte die Atmosphäre auflockern. Es war uns hinterher allen irgendwie peinlich, am meisten Olof selbst. Ich weiß auch nicht, warum er so ist. So wenig selbstbewusst und sozial. Vielleicht liegt es an seinem Sprachfehler.«
»Ein Sprachfehler?«, fragte Nyström.
»Ja. Er nuschelte. Manchmal verwechselte er auch die Artikel. Baute die Sätze merkwürdig. Das mag jetzt komisch klingen und es ist bestimmt nicht abwertend gemeint, ich habe ihn auf eine Art sehr gemocht, aber manchmal habe ich mich wirklich gefragt, ob er als Kind nicht auf den Kopf gefallen ist. Oder bei der Geburt zu wenig Luft bekommen hat. Wenn du weißt, was ich meine.«
»Du meinst, er wirkte bisweilen ein wenig zurückgeblieben?«
»Ja. Ich meine nicht schwachsinnig oder so. Eher ein bisschen langsam.«
Plötzlich fiel Nyström etwas ein.
»War er religiös?«, fragte sie.
»Nein, nicht dass ich wüsste.«
»Weißt du, ob er Gewerkschaftsmitglied war?«
Amina drückte den Zigarettenstummel aus. Sie hatte die Zigarette beinahe bis zum Filter hinuntergeraucht. Dann sah sie Nyström in die Augen.
»Das ist merkwürdig, dass du danach fragst. Olof ist der einzige Briefträger, den ich kenne, der kein Gewerkschaftler ist, mal abgesehen von den studentischen Aushilfen jedenfalls. Im Gegenteil, obwohl wir ihn manchmal geradezu bedrängt haben, in die Gewerkschaft einzutreten, hat er sich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt.«
11
»Das sieht nicht gut aus«, sagte Delgado.
Er sah auf das Foto, das Hultin ihm ins Präsidium gemailt hatte. Es zeigte den Leichnam Anderssons. Das, was von ihm übrig geblieben war.
»Oh«, sagte Lindholm. Alle Farbe war aus seinem Gesicht gewichen.
»Ja«, sagte Delgado. »Oh.«
»Ich glaube, ich brauche jetzt ganz dringend einen Kaffee«, presste Lindholm hervor und verschwand schnell im Flur.
»Für mich auch bitte!«,
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