Rotwild: Der zweite Fall für Ingrid Nyström und Stina Forss (German Edition)
Brise auf. Nyström umarmte ihre Freundin zur Begrüßung. Es tat ihr gut, den vertrauten Geruch von Nikotin und teurem Parfüm zu atmen, der Ann-Vivika umgab, seit sie sich erinnern konnte. Etwas in ihr löste sich, die innere Verspannung ließ für den Moment nach. Sie setzten sich in Ann-Vivikas Arbeitszimmer. Die warmen Holztöne und naturbelassenen Stoffe, mit denen die Ärztin ihr Büro eingerichtet hatte, setzten einen bewussten Kontrapunkt zu der kühlen Halle aus weißen Fliesen und Edelstahl, in der sie den unangenehmeren Teil ihrer Arbeitszeit verbrachte. Ann-Vivika goss ihnen beiden gekühlten Tee ein. Sie sah ernst aus und übermüdet. Sie begann das Gespräch mit einem tiefen Seufzer.
»Was soll ich dir erzählen, Ingrid? Du hast den Leichnam ja gesehen. Unvorstellbare Gewalt, weit über den Tod hinaus.«
»Woran ist er gestorben?«
»Letztendlich an einem Herzinfarkt, so merkwürdig sich das vielleicht anhören mag, wenn man den zugerichteten Körper gesehen hat.«
»Ein Infarkt?«
»Ja, aber das ist bei näherer Betrachtung gar nicht so ungewöhnlich. Du musst bedenken, dass er nicht mehr der Jüngste war, außerdem erfüllte er andere Voraussetzungen: Er hatte Arteriosklerose, leichtes Übergewicht und seine Lunge war die eines langjährigen Rauchers, der erst vor Kurzem den Absprung geschafft hat. Außerdem hat er sich zu wenig bewegt und regelmäßig sedierende Medikamente eingenommen. Wenn man das alles zusammennimmt, war er für einen Herzinfarkt prädestiniert. Unter der Folter ist es dann geschehen. Das war für sein geschädigtes Herz-Kreislauf-System einfach zu viel.«
Nyström schluckte.
»Folter. Die Verletzungen hat man ihm also beigebracht, als er noch lebte?«
»Zum großen Teil. Er wurde zunächst geschlagen.«
»Mit einem Kreuz wie Dahlin?«
»Nein, mit einem weicheren Gegenstand. Einer Rute oder etwas Ähnlichem.«
Ann-Vivika blätterte in ihren Unterlagen.
»164 Schlagspuren habe ich gefunden. Dann hat der Täter ihm die Hände abgetrennt, mit einer Axt oder einem Beil, würde ich vermuten.«
»Konnte sich Andersson nicht wehren?«
»Er war gefesselt. Auch diese Striemen habe ich an seinem Körper entdeckt.«
»Fesseln haben wir am Tatort nicht gefunden.«
»Nein, die gehörten in diesem Fall wohl nicht zu der Inszenierung.«
Nyström nippte an ihrem Tee. Ihre Freundin sah blass aus, ihr dunkles Haar schimmerte.
»Schließlich wurden ihm die Beinknochen zertrümmert, mit einem stumpfen, schweren Gegenstand, vielleicht mit der Rückseite einer Axt. Ganz zum Schluss dann die Entfernung des Kopfes, aber da war er bereits tot.«
»Wie lange hat er gelitten, denkst du? Wie lange wurde er gefoltert, bis sein Herz aufhörte zu schlagen?«
»Das ist schwer zu sagen, Ingrid. Eine Stunde, womöglich länger.«
Nyström dachte an das, was Bo Örkenrud ihr am Morgen gesagt hatte.
Ich habe den Eindruck, der Täter wird hektisch. So als laufe ihm plötzlich die Zeit davon.
Das schien nicht zu dem zu passen, was Ann-Vivika herausgefunden hatte. Oder doch? Eine Inszenierung, aber kleiner und weniger detailliert als bei Dahlin? Wie schon bei ihrem letzten Besuch vor zwei Tagen rutschte ihr Blick auf den großen, gerahmten Druck von Miró, der über dem Kopf ihrer Freundin an der vertäfelten Wand hing, und blieb daran hängen: schwarze wuchernde Flecken auf einem blauen Grund, dazwischen klaffte eine schreiend rote Linie. Wie eine Wunde, dachte sie. Wieder spürte sie das Ziehen in ihrer linken Brust, ein Schmerz, stärker noch als am Vortag.
»Ingrid?«
Ihr Name kam von irgendwo. Weit entfernt, aus einer anderen Galaxie. Sie kniff die Augen zusammen, öffnete sie wieder. Ann-Vivika blickte sie erschrocken an.
»Ist alles in Ordnung mit dir?«
Die Worte kamen wie von selbst, genau wie Nyströms Tränen.
»Ich glaube, ich habe Krebs.«
10
»Das war ein Trick vorhin, oder? Ich meine, als du mich zum Wagen geschickt hast?«, knurrte Knutsson.
»Ja, Lasse, das war ein Trick.«
»Clever, Stina, äußerst clever«, nickte er. »Der große, böse Bulle schüchtert die Zeugin ein, klopft sie weich, bis der gute Bulle den bösen wegschickt, Vertrauen aufbaut und schließlich die Zeugin knackt. So von Frau zu Frau.«
»Ich habe niemanden geknackt , Lasse. Außerdem bist du gar kein böser Bulle.«
»Nein?«
»Nein«, lachte Forss. »Ganz und gar nicht. Du bist sogar ziemlich liebenswert, finde ich.«
»Aha«, sagte Knutsson. Danach schwieg er, bis sie das Grundstück von
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