Rotwild: Der zweite Fall für Ingrid Nyström und Stina Forss (German Edition)
eifrig. Das goldene Emblem auf seiner Mütze blitzte in der Sonne. Er hat es frisch poliert, ging ihr durch den Kopf. Seine Einladung auf einen Espresso lehnte sie ab. In einer Pizzeria im Ortskern aß sie zu Mittag, dann fuhr sie zu Amina Ducaj, der Briefzustellerin, die Anderssons Leichnam gefunden hatte. Die Frau stand sichtlich unter Medikamenteneinfluss, ihr Blick war träge, ihre Zunge schwer. Doch Hultin bemerkte auch etwas anderes. Schwarze Haare, dunkler Teint. Und dann der Name, Ducaj. Die kommt aus Osteuropa, dachte sie, Balkan. Etwas in ihr verhärtete sich. Um die Briefträgerin herum sprang ein agiler Pudel, der ununterbrochen kläffte. Der Wesensunterschied zwischen der sedierten Frau und dem lebhaften Tier wirkte auf Hultin grotesk. Sie versuchte, ihre Wut loszulassen, aber ganz gelang es ihr nicht. Auch wenn sie wusste, dass es unprofessionell war. Sie zeigte Ducaj das Foto von Dahlin. Die Frau schüttelte den Kopf. Bedächtig, wie in Zeitlupe. In ihrem Mundwinkel steckte eine Zigarette, an der die Asche immer länger wurde, bis sie auf das Revers ihres rostfarbenen Morgenmantels fiel. Ducaj schien es nicht einmal zu bemerken. Ihr glasiger Blick fixierte Hultin.
»Wer trägt jetzt eigentlich die Post aus, wo Olof tot ist und ich krankgeschrieben bin?«
9
Die Königin der Steine, dachte Ingrid Nyström, jedenfalls fühlte sich jeder Muskel, jede Faser ihres Körpers so an, versteinert. In der Pressekonferenz hatte es begonnen. Während Edman milde lächelnd und seine manikürten Hände betrachtend neben ihr gesessen hatte, waren die Fragen der Journalisten wie Granateinschläge auf sie niedergegangen. Sie hatte sich gewehrt, so gut es ging, Ausweichmanöver durchgeführt, Deckung gesucht, Gegenoffensiven gestartet. In die Knie gegangen war sie nicht, aber sie hatte einiges einstecken müssen. Ein Journalist eines überregionalen Boulevardblatts hatte ihr später zugeraunt, dass sie damit rechnen könne, ihr Foto am nächsten Tag in der Zeitung zu sehen. An die Bildunterschrift wollte sie erst gar nicht denken. Sie war nass geschwitzt und ihre Nackenmuskeln waren völlig verspannt, das Resultat ihrer inneren Abwehrhaltung. Anschließend führte sie ein Telefonat mit der stellvertretenden Landespolizeichefin. Sie erfuhr, dass man sich in Stockholm bereits Sorgen mache, ob sie dem ungewöhnlichen und komplexen Fall gewachsen sei, schließlich arbeite sie ja erst seit wenigen Monaten in leitender Position. Nyström spürte, dass sie wütend wurde. Sie gab ihr Bestes, um den Eindruck zu vermitteln, jeden Aspekt der Untersuchung unter Kontrolle zu haben. Obwohl sie beinahe eine Stunde lang sprach, hatte sie hinterher das Gefühl, die entscheidenden Dinge nicht wirklich auf den Punkt gebracht, sondern sich in Entschuldigungen und Rechtfertigungen verheddert zu haben. Das Ergebnis des unerfreulichen Gesprächs war ein Ultimatum: Sollte binnen einer Woche kein dringend Tatverdächtiger ermittelt werden, würde sich die Reichskrim in den Fall einschalten und Nyström die Verantwortung entziehen. Als sie schließlich auflegte, war auch ihre Schultermuskulatur vollkommen hart. Dann hatte sie eine Unterredung mit dem Staatsanwalt Joakim Börjlind. Im Grunde war Börjlind ein ruhiger, kluger Mann, mit dem sie seit vielen Jahren gut zusammenarbeitete, aber der grausame Doppelmord hatte offensichtlich auch ihm zugesetzt. Er kam Nyström ungewöhnlich nervös und fahrig vor und er verbarg seine Enttäuschung über die mageren Ermittlungsergebnisse nur notdürftig. Als sie sein Büro am frühen Nachmittag verließ, war ihr gesamter Rücken so steif, dass sie Schwierigkeiten hatte, die Treppe hinauf zu ihrer Abteilung zu nehmen, und sie dachte zum ersten Mal seit Einweihung des Präsidiums ernsthaft darüber nach, den Fahrstuhl zu nehmen, entschied sich dann aber dagegen, weil sie davon überzeugt war, dass ihr ein bisschen Bewegung guttun würde. Ihr Mittagessen bestand aus einem Apfel und einer Birne, dazu trank sie mehrere Gläser Leitungswasser und machte einige gymnastische Übungen. Dann sortierte sie Meldungen und Notizen, die sich im Laufe des Vormittags auf ihrem Schreibtisch gesammelt hatten, und brachte die Akten auf den neuesten Stand. Um fünfzehn Uhr hatte sie einen Termin bei Ann-Vivika Kimsel in der pathologischen Abteilung des Krankenhauses. Sie war froh, an die frische Luft zu kommen und ging die wenigen Hundert Meter zu Fuß. Die Luft war warm, aber aus Richtung des Växjösees kam eine frische
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