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Rotzig & Rotzig

Rotzig & Rotzig

Titel: Rotzig & Rotzig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Juretzka
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eigenes Leben.“ Sie brach ab, nippte an ihrem Kaffee. Ich ging im Kopf ein paar verständnisvolle Äußerungen durch, doch alle klangen entweder hohl oder patronisierend, also hielt ich einfach den Mund. „Beim Jugendamt hatten sie so etwas kommen sehen. Sagten sie zumindest. Auf alle Fälle hatte ich mein Anliegen noch nicht ganz ausgesprochen, da war für meinen Bruder auch schon ein Platz in einer Pflegefamilie frei. Bei Ann-Kathrin und Jean-Luc Reiff.“
    „Ein seltener, großer Glücksfall“, sagte ich. Irgendwas daran kam mir irgendwie bekannt vor. „Ja. So hat man es ausgedrückt. Doch er war glücklich dort, Kristof. Er ist immer ein so fröhlicher Junge gewesen, trotz seiner Behinderung. Natürlich hat mich mein Gewissen geplagt, das Gefühl, ihn abgeschoben zu haben, aber er war immer happy, wenn ich ihn besuchen kam, hat sich nie beklagt. Nie.“ Es war eine dieser Geschichten, die geradezu magnetisch angezogen auf ein unglückliches Ende zusteuern, doch alles, was man machen kann, ist dazusitzen und zuzuhören.
    „Aber dann, nach ein paar Monaten, war er von heute auf morgen verändert, wie ausgewechselt. Verschlossen und verängstigt.“
    Leyla sah zu Boden, kaute wieder auf ihrer Unterlippe herum. Struppi kratzte sich vehement hinterm Ohr. Ich schwieg.
    Ein quäkendes Hupen von der Tankstelle her schreckte uns alle auf. Leyla ging nach draußen, wo eine alte Dame mit ihrem 2CV vor einer der beiden Zapfsäulen gestoppt hatte.
    Nachdem sie der Alten aus ihrem Auto geholfen hatte, schraubte Leyla den Tankverschluss ab und füllte Benzin ein. Die beiden Frauen plauderten freundschaftlich miteinander, während der Sprit lief. Schließlich, Zapfpistole zurück an ihrem Haken, Tankverschluss wieder auf dem Stutzen, reichte die alte Dame Leyla einen schon bereitgehaltenen, zusammengefalteten Schein, kletterte zurück in ihre Ente und fuhr recht schneidig davon. Leyla winkte ihr noch hinterher, bevor sie zurück in die Cafebar kam und ihre Miene wieder ernst wurde.
    „Niemand konnte mir für die Wesensveränderung meines Bruders eine Erklärung geben“, sagte sie und nahm ihren Platz hinter der Theke wieder ein. „Ich habe dann das Jugendamt eingeschaltet, und ein von denen beauftragter Psychologe hat mir allen Ernstes nahegelegt, meinen Bruder seltener zu besuchen. Es würde ihn stressen.“ Sie schüttelte ungläubig den Kopf. „Da ist mir klargeworden, dass ich ihn wieder herausholen musste aus dieser Familie. Ich habe einen Antrag gestellt. Das Amt kam, um meine häusliche Situation zu überprüfen. Mein Freund hat damals bei mir gewohnt. In Lebensgemeinschaft, wie es so heißt. Alles schien okay, der Rest eine Formsache. Doch noch am selben Tag hat die Polizei meinen Freund mit dem Auto angehalten. Und einer der Beamten hat in seinem Handschuhfach Heroin gefunden.“ Der Holzofen rumpelte.
    „Mike hat Drogen gehasst“, sagte sie vehement. „Man muss ihm das untergeschoben haben. Trotzdem wurde er verurteilt und mein Antrag abgelehnt. Die Reiffs haben seither das Sorgerecht.“ Ihre Stimme klang plötzlich müde, wie von etwas, das sie schon viel zu oft gedanklich durchgegangen war. „Eine Woche später hat sich Angelo aus einem Fenster im zweiten Stock der Villa Reiff gestürzt.“
    „Angelo“, sagte ich. „Sitzt er heute im Rollstuhl?“
    „Du hast ihn getroffen?“
    „Ja. Und Reiff hat von einem tragischen Unfall gesprochen.“
    >„Tragischer Unfall< hört sich so viel besser an als versuchter Selbstmorde“
    „Und woher weißt du, dass es ein Selbstmordversuch war?“
    „Ich weiß es nicht. Und wenn, ich könnte es nicht beweisen. Doch irgendetwas in diesem Haus hat meinen Bruder so verletzt, so verängstigt, dass er keinen anderen Ausweg mehr gesehen hat.“
    „Und er hat nicht mit dir darüber gesprochen?“ Sie schüttelte den Kopf. „Wenn ich heute darüber nachdenke, habe ich das Gefühl, dass er sich geschämt hat.“ Angst und Scham. Typisch für Opfer von Gewalt. „Und selber aussagen kann er seitdem nicht mehr?“
    „Nein. Ich habe alles versucht, bei den seltenen Gelegenheiten, wenn man mich überhaupt zu ihm lässt.“
    „Aber es muss doch eine Untersuchung gegeben haben“, warf ich ein.
    „Ja klar. Medizinisch, polizeilich, amtlich. Ich habe überall auf die plötzlichen Wesensveränderungen meines Bruders hingewiesen, darauf, dass das Jugendamt darüber informiert war und trotzdem nichts unternommen hat. Es ist nichts, aber auch gar nichts passiert. Wenn sich

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