Rotzig & Rotzig
gelingt es Ihnen ja, die Spur der Jungen aufzunehmen.“
„Dann los.“
Reiff fuhr vorneweg, ich hinterher. Durch das Tor, die Einfahrt hoch. Er stellte den Q7 in die Remise, ich parkte den Toyota direkt vor der Haustür. Struppi knurrte furchterregend, als das Pony freudig herangetrabt kam. Nein, er wollte nicht aussteigen, also ließ ich ihn im Wagen, belagert vom Feind. Ann-Kathrin öffnete die Tür und schlug die Hände vors Gesicht. „Du hast ihn gefunden“, rief sie ihrem Mann zu. „Welch ein Glück!“ Na, abwarten, dachte ich, so für mich. Ann-Kathrin und Jean-Luc führten mich einen langen Flur hinunter. Überall zweigten Kinderzimmer ab, die Türen offen, die Kinder mit sonntäglichen Dingen beschäftigt. Alle sahen auf, als wir vorbeikamen, grüßten höflich oder starrten neugierig, am auffälligsten ein hoch aufgeschossener Schwarzafrikaner mit riesigen, für immer staunenden oder für immer panischen Augen. Angelo kam auf seinem Elektrorollstuhl angesurrt, heftete sich an unsere Fersen und belastete mein Gewissen. Irgendetwas an seiner Anwesenheit und wie er jede meiner Bewegungen beobachtete, drängte mich dazu, endlich Ergebnisse zu präsentieren. Das Zimmer der Zwillinge befand sich am Ende des Flurs. Das Fenster zeigte nach hinten, auf den Felsen. Schmal wie die Jungs waren, hatten sie tatsächlich nur einen der Gitterstäbe durchtrennen und hochbiegen müssen. Bei mir passte so gerade der Kopf durch die Lücke. Unter dem Fenster war ein Beet, der Schnee darauf unberührt. Doch nur einen halben Meter weiter schloss sich ein Weg an, geräumt und mit Split bestreut. Leichte Sprungdistanz. Frostige Luft wehte herein, also schloss ich den Flügel, wandte mich um zu den Reiffs, die mich abwartend ansahen, genau wie Angelo. „Wann haben Sie das Verschwinden bemerkt?“
„Kurz vor dem Frühstück“, antwortete Ann-Kathrin, ein dickes Knäuel Küchenkrepp in der Faust, die Augen rotumrandet. „Wir haben dann sofort alles abgesucht und, als Yves und Sean nicht zu finden waren, die Polizei alarmiert. Es ist doch Winter!“, brach es aus ihr heraus.
„Wie konnten die beiden über den Zaun klettern, ohne Alarm auszulösen?“
„Sie haben den Alarm ausgelöst“, sagte Jean-Luc. „Doch bis der Ersatzwachmann, der mit den Verhältnissen hier noch nicht so vertraut ist, vor Ort eintraf, waren sie schon in der Nacht verschwunden.“
„Bei dieser Kälte“, schluchzte Ann-Kathrin und stampfte mit dem Fuß auf. Sie war regelrecht wütend vor Sorge. Oder tat so. Angelo schenkte ihr keine Beachtung. Er sah mich an, ununterbrochen.
„Der Wachmann hat das dann als Fehlalarm verbucht“, fuhr Jean-Luc fort.
„Gibt es Bilder vom Überklettern des Zauns? Videoaufzeichnungen?“
„Nein.“
„Nein?“
Jean-Luc breitete bedauernd die Arme aus. „Sie haben zuallererst den Scheinwerfer mit einem Steinwurf zerstört. Kein Licht, keine Bilder.“
Okay, das mit dem Steinwurf, das wirkte authentisch, das war ihnen zuzutrauen, den durchtriebenen Bürschchen. Trotzdem folgte jeder Antwort, die ich hier bekam, eine neue Frage.
„Gab es einen Anlass für die beiden, das Weite zu suchen?“
Ich sah Ann-Kathrin und Jean-Luc scharf an, die beide nachdenklich und ernst die Köpfe schüttelten. „Haben sie eine Nachricht hinterlassen?“ Wieder Kopfschütteln. Weder sie noch er wichen meinem Blick aus. Ich versetzte mich kurz in die Lage zweier Ausreißer bei der Planung ihrer Flucht, bevor ich meine nächste Frage stellte. „Fehlt irgendwas, hier im Haushalt? Irgendwas von Wert, angefangen bei Bargeld?“
„Oh, daran haben wir ja überhaupt noch nicht gedacht.“ Ann-Kathrin sah ihren Mann mit großen Augen an. „Wir haben eine Haushaltskasse, in der Küche. Ich geh sofort nachsehen.“ Sie eilte davon, ich setzte mich auf eines der beiden Betten und bat Jean-Luc, mich einen Moment allein zu lassen. Er tat es bereitwillig, schob auch Angelo vor sich her aus dem Raum, schloss die Tür. Alles, um dem großen Detektiv ein ungestörtes Arbeiten zu ermöglichen.
Ich lockerte meinen Schal. Es war gut beheizt, dieses Zimmer. Hell und freundlich. Und ihres, ganz allein. Kein Stief, der sich hier Tag und Nacht den Arsch breitsaß. Es braucht schon ein starkes Motiv, so ein gemütliches Ambiente gegen die Kälte und Ungewissheit eines Marsches durch die Winternacht einzutauschen. Ein verdammt starkes Motiv.
Ich stand auf, trat ans Fenster, öffnete es. Fensterflügel wie Fensterrahmen waren unbeschädigt. Von
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