Rotzig & Rotzig
in den Keller, suche und finde meine Genehmigung zur Einsicht in die Patientenakte Angelo Muller und hole auch gleich noch den Luxemburger Gerichtsbeschluss aus dem Auto, der alle öffentlichen Stellen zur Zusammenarbeit mit meiner Behörde auffordert. In nicht ganz zehn, zwölf Minuten bin ich wieder zurück.“
Niemann-Jura blickte noch mal auf seine Uhr und seufzte resigniert.
„Das dauert zu lang. Ich habe in drei Minuten eine Notfall-OP. Verkehrsunfall.“
„Dann reiche ich die Dokumente einfach nach.“ Er zögerte. Ich zeigte ihm mein geduldigstes, unbeirrbarstes, abwartendstes Bullen-Starren. Schließlich gab er sich einen Ruck, sprach schnell und tonlos. „Ich habe Angelo Muller nach seinem Fenstersturz operiert. Mehrfach. Ein Großteil seiner Traumata waren typische Aufprallverletzungen, hauptsächlich Frakturen und Quetschungen.“ Er zupfte die Ärmel seines Kittels hoch, trat an ein Waschbecken und seifte sich die Hände ein. „Doch der Körper des Jungen wies auch eine Reihe von Verletzungen auf, die ganz und gar nichts mit seinem Sturz zu tun hatten.“ Ein Gebläsetrockner heulte auf, als Niemann-Jura seine Hände darunter hielt. „Was für Verletzungen waren das?“, fragte ich, zückte einen Notizblock.
„Spuren erheblicher Misshandlungen. Unter anderem zahlreiche punktuelle Verbrennungen der Haut, vor allem an Armen, Beinen und Gesäß. Plus eine Ruptur des Sphinkters.“
Das war mir jetzt ein wenig zu viel Fachchinesisch, und man sah es mir an.
„Riss des Schließmuskels“, erläuterte der Doktor. Das Heulen des Trockners erstarb, dafür erklang nun ein Piepen. Er griff in die Tasche seines Kittels und schaltete es ab. „Muss los.“
„Eine Sekunde noch. Mit anderen Worten: Der Junge wurde gefoltert und vergewaltigt, bevor er aus dem Fenster stürzte.“
„Das sind Schlussfolgerungen“, sagte der Arzt von der Tür her. „Ihre Schlussfolgerungen. Die Polizei hat andere gezogen.“
„Nämlich?“
„Da fragen Sie am besten Peelaert.“
Zündkerzen zündeten, Wellen rotierten, Hände bewegten Steuer und Hebel, Füße traten Pedale. Wie ein Schiff mit einer eingespielten Mannschaft bahnte sich der Toyota seinen Weg durch den Echternacher Verkehr. Nur der Kapitän auf seiner Brücke war momentan nicht ganz bei der Sache, brütete über einem Wetterbericht, in dem alle Zeichen auf Sturm standen. Gefoltert und vergewaltigt. Wie ich das Leyla beibringen sollte, war dabei nur ein Teil des Problems. Viel schwerer wog die Frage, wie ich das Erfahrene je beweisen sollte. Alles, was ich hatte, war eine ergaunerte mündliche Aussage, und ich wusste jetzt schon, wie die Behörden darauf reagieren würden. Dazu kam der unerträgliche Gedanke, dass Angelo offenbar nach seinem Krankhausaufenthalt direkt wieder seinen Peinigern ausgeliefert worden war und immer noch im Haus der Reiffs wohnte. Wo er seither als Exponat für die Gutherzigkeit seiner Pflegeeltern vorgeführt wurde. Und der nächste Brocken, an dem ich zu kauen hatte, war die Situation der Zwillinge. Die Situation, in die ich sie gebracht hatte.
All das verdüsterte mir den Horizont, als sich kurz vor Leylas Tankstelle ein schwarzer Audi Q7 vor mich setzte und der Fahrer brutal in die Eisen stieg. Wir stoppten, Jean-Luc Reiff sprang aus dem Wagen, kam auf mich zugestürmt, die Augen weit, die sonst so gelassene Haltung in Auflösung. Mit einem Ruck hatte ich den Rückwärtsgang drin, hielt die Kupplung gedrückt, rechte Fußspitze auf der Bremse, Hacke auf dem Gas. Alles nur für den Fall, dass Reiff eine Waffe ziehen oder ein zweiter Mann aussteigen sollte. Vorsichtig kurbelte ich das Seitenfenster ein paar Zentimeter herunter.
„Herr Kryszinski“, keuchte Reiff in den entstehenden Spalt, „was für ein Glück, dass ich Sie treffe! Ich brauche Ihre Dienste. Jetzt sofort.“
Mit einiger Nonchalance nahm ich den Rückwärtsgang raus und den Fuß von der Kupplung. „Worum geht's?“
„Yves und Sean sind letzte Nacht aus ihrem Zimmer verschwunden.“
„Was heißt verschwunden? Sind sie entführt worden, oder sind sie abgehauen?“
„Abgehauen, wie Sie es ausdrücken. Sie haben einen Gitterstab vor ihrem Fenster rausgesägt, sind über den Zaun geklettert und in der Nacht verschwunden. Meine Frau und ich machen uns die größten Sorgen.“
„Das muss ich mir ansehen.“
„Ja, bitte kommen Sie mit. Die Polizei war natürlich auch schon da, aber Sie, Sie kennen die beiden, Sie sind aus derselben Stadt. Vielleicht
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