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Rotzig & Rotzig

Rotzig & Rotzig

Titel: Rotzig & Rotzig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Juretzka
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außen schien sich somit niemand Einlass verschafft zu haben.
    Der durchgesägte und dann hochgebogene Gitterstab war etwa fingerdick und an seinem unteren Ende fachmännisch durchtrennt. Keine Kratzspuren von mehrfachem, ungeübtem Ansetzen des Sägeblattes. So wie ich sie an dem Bügelschloss des gelben Mountainbikes gesehen hatte. Allerdings war ein Bügelschloss rund und aus gehärtetem Material. Der glatte Schnitt hier war also nicht wirklich aussagekräftig. Das Werkzeug lag noch auf der Fensterbank. Eine kleine Bügelsäge, wie sie in jedem Werkunterricht verwendet wird und in jedem Bastelkeller zu finden ist.
    Ich griff hoch und zog an dem verbogenen Gitterstab. Kräftemäßig von zwei Jungs ohne weiteres zu bewerkstelligen. Warum nur war ich mir so sicher, dass das alles nichts als eine Inszenierung, ein Täuschungsmanöver war? Ich stellte mich in die Mitte des Zimmers, drehte mich einmal um die eigene Achse und verschaffte mir eine kurze Abfolge von Eindrücken. Spiderman hatte es wieder an die Wand geschafft und ein Wurf Hundewelpen ebenfalls. Snoop Dogg und die leicht geschürzte Musikfernsehsprechblase dagegen nicht. Mit Blick auf die beiden Betten stoppte ich meine Drehung. Einem Impuls gehorchend griff ich erst unter das eine Kopfkissen, dann unter das andere. Wurde beide Male fündig. Nun hatte ich Gewissheit. Die Frage war, wie ich damit umging. Ich hatte Gewissheit in nur einem Punkt: Die Jungs waren nicht abgehauen. Nicht aus eigenem Antrieb. Was war dann mit ihnen passiert? Wo waren sie? Wie viel wussten die Reiffs? Oder täuschte man sie im selben Maße, in dem man es mit mir versuchte? Bevor ich keine Antworten hatte auf diese Fragen, blieb mir eigentlich nur, mitzuspielen und weiterzumachen. Draußen auf dem Flur kam mir Jean-Luc entgegen. Die Polizei hatte inzwischen beim Busbahnhof, Echternachs Tor zur Welt, nachgefragt, doch dem Typen am Schalter waren keine Zwillinge aufgefallen.
    „Das hat überhaupt nichts zu bedeuten“, sagte ich. „Es ist ja nicht so, dass sie, um zwei Bustickets zu kaufen, paarweise vor dem Schalter auftauchen müssen, wo einer dann die Sätze des anderen vervollständigt. Das Leben, auch das von Zwillingen, ist kein Ratiopharm-Werbespot.“
    Wir gingen in die Küche, wo Ann-Kathrin am Tisch saß und sich mit Taschenrechner und Haushaltsbuch beschäftigte, ihre Geldbörse offen daneben. „Es fehlen 236 Euro“, seufzte sie. „Hat die Polizei etwas herausgefunden?“, fragte sie ihren Mann. Der schüttelte stumm den Kopf. „Und Sie?“, wandte sie sich an mich, ihr Gesichtsausdruck hilfesuchend.
    „Ich werde das Gefühl nicht los“, antwortete ich, „dass es sich hier um einen Streich handelt. Bevor ich weitere Recherchen einleite und weitere Kosten verursache, muss ich mich erst vergewissern, dass die Bengel sich hier nicht irgendwo versteckt halten und hinter unserem Rücken kaputtlachen. Das heißt, unabhängig davon, wo Sie schon überall gesucht haben, muss ich mir das Haus noch mal genau ansehen, vom Keller bis zum Dach.“
    Halb und halb hatte ich Widerstand erwartet, Ausflüchte, doch Jean-Luc führte mich durch die gesamte, riesige Bude, ließ mich alle Türen öffnen, jeden Vorhang beiseiteziehen, in sämtliche Schränke linsen. Angelo folgte uns auf Schritt und Tritt, zumindest so weit er mit seinem Rollstuhl kam. Es fand sich nichts, außer weiteren Fragen. Wir ließen Angelo am Kopf einer Wendeltreppe zurück, die in den Keller führte. Im Gewölbeteil war eine überaus rustikale Bar eingerichtet. Hier unterhielt Jean-Luc wohl seine Geschäftsfreunde. Wie von allein fand eine Cognacflasche den Weg in seine Hand und ein Paar Schnapsgläser den auf den Tresen. „Es ist jedes Mal dasselbe“, meinte er ernst und hob sein Glas. „Die ersten drei, vier Wochen sind schwierig für die Kinder. Alles ist ungewohnt, und das Heimweh nagt an ihnen. Viele reißen aus, doch die meisten kommen von sich aus zurück. Meine Frau ist immer halbverrückt vor Sorge.“
    „Gibt es auch Fälle, in denen die Kinder nicht zurückkommen?“
    Jean-Luc goss noch mal nach, ehe er mit einem schweren Seufzer antwortete.
    „0 ja. Leider, ja. Und wissen Sie, was für uns das Schlimmste ist? Von manchen Kindern haben wir nie wieder etwas gehört. Nie wieder. Nichts.“
    „Wie das?“
    „Manche sind und bleiben verschollen. Spurlos verschwunden. In einigen Fällen kann man ahnen, was passiert ist - von den eigenen Verwandten entführt und außer Landes gebracht, zum Beispiel

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