Rousseau's Bekenntnisse
wieder zur Geltung. Zufällig hörte ich von seiner Abhandlung über die Harmonie reden und hatte keine Ruhe, bis ich mir dieses Buch verschafft hatte. Durch einen andern Zufall erkrankte ich. Die Krankheit war entzündlich; sie war heftig und kurz, aber meine Wiedergenesung dauerte lange, und erst nach einem Monate war ich im Stande auszugehen. Während dieser Zeit überflog und verschlang ich meine Abhandlung über die Harmonie; aber sie war so weitläuftig, so verworren, so schlecht geordnet, daß ich einsah, es würde ihr Studium und ihr Verständnis eine bedeutende Zeit in Anspruch nehmen. Das machte meinem Fleiße mit einem Male ein Ende, und ich erfrischte nun meine Augen an dem Anblicke von Noten. Berniers Cantaten, an denen ich mich übte, gingen mir nicht mehr aus dem Kopfe. Ich lernte vier oder fünf von ihnen auswendig, darunter die, welche den Titel führt: »Die schlummernden Liebesgötter«; sie ist mir seitdem nie wieder vor Augen gekommen, und ich habe sie fast noch vollkommen im Gedächtnis. Ferner lernte ich ungefähr in der nämlichen Zeit: »Der von der Biene gestochene Amor«, eine sehr hübsche Cantate von Clerambault.
Um mich vollends dafür einzunehmen, kam von Wal d'Aost ein junger Organist, der Abbé Palais herüber, ein guter Musiker, ein guter Mensch und ein sehr guter Klavierbegleiter. Ich lernte ihn kennen, und wir wurden mit einem Male unzertrennlich. Er war der Schüler eines italienischen Mönchs, eines großen Organisten. Er redete mit mir von seinen Principien. Ich verglich sie mit denen meines Rameau und füllte mir den Kopf mit Begleitungen, Accorden und Harmonielehre an. Dies alles bedurfte Uebung des Ohres. Ich schlug Mama deshalb vor, monatlich ein kleines Concert zu veranstalten; sie willigte ein. Nun war ich so voll von diesen Concerten, daß ich mich Tag und Nacht mit nichts anderem beschäftigte, und wirklich machte es mir auch viel zu thun, die Musik, die Mitspieler, die Instrumente aufzutreiben, die Stimmen auszuschreiben u. s. w. Mama sang, der Pastor Caton, dessen ich bereits erwähnt und noch öfter werde erwähnen müssen, sang gleichfalls; ein Tanzlehrer, Namens Rocha, und sein Sohn spielten die Geige; Canavas, ein piemontesischer Musiker, der beim Kataster arbeitete und sich später in Paris verheirathet hat, spielte Violoncello; der Abbé Palais übernahm die Klavierbegleitung, und mir wurde die Ehre zu Theil, mit dem Taktstocke in der Hand, das Ganze leiten zu dürfen. Man kann sich vorstellen, wie schön dies alles war; nicht genau so wie bei Herrn von Treytorens, aber es fehlte doch nicht viel.
Die kleinen Concerte der Frau von Warens, einer Neubekehrten, die noch dazu nur von der Gnade des Königs leben sollte, setzte das fromme Gelichter in Harnisch, waren indessen für viele ehrliche Leute ein angenehmes Vergnügen. Man sollte nicht vermuthen, wen ich hier an ihre Spitze stellen muß: einen Mönch, aber einen höchst begabten und sogar liebenswürdigen Mönch, dessen Mißgeschick mir in der Folge sehr nahe gegangen ist. Ich meine den Pater Caton, einen Franziskaner, der im Verein mit dem Grafen Dortan auf die Noten der armen kleinen Katze in Lyon hatte Beschlag legen lassen, was gerade nicht der schönste Zug in seinem Leben ist. Er war Baccalaureus der Sorbonne. In Paris hatte er sich lange in vornehmen Kreisen bewegt und namentlich mit dem Marquis von Antremont, dem damaligen sardinischen Gesandten, viel verkehrt. Er war ein großer, wohlgebildeter Mann mit vollem Gesichte, hervorstehenden Augen und schwarzem Haar, das an den Schläfen in natürlichen Locken hinabfiel. Er hatte ein eben so edles wie offenes und bescheidenes Wesen, ein einfaches und gefälliges Auftreten, in dem nichts von dem scheinheiligen und frechen Benehmen der Mönche, noch von dem geckenhaften Betragen eines Modeherrn hervortrat, obgleich er es war. Statt dessen zeigte er die Sicherheit eines Ehrenmannes, der, ohne über seinen Rock zu erröthen, sich selbst ehrt und sich unter Ehrenmännern stets an seiner Stelle suhlt. Besaß der Pater Caton auch für einen Doctor nicht viel Kenntnisse, so besaß er doch viel für einen Weltmann, und während er sein Wissen nicht geflissentlich zur Schau trug, brachte er es stets im rechten Augenblicke so zur Geltung, daß man ihm ein noch weit größeres zutraute. Da er viel in der Gesellschaft gelebt, hatte er sich mehr angenehme Talente als ein gründliches Wissen angeeignet. Er hatte Geist, machte Verse, sprach gut, sang noch besser, hatte
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