Rousseau's Bekenntnisse
auf Erden dasteht. Alle unsere Wünsche, unsere Sorgen, unsere Herzensregungen waren gemeinschaftlich; nichts davon ging über diesen kleinen Kreis heraus. Die Gewohnheit des Zusammenlebens und zwar des ausschließlichen Zusammenlebens wurde so stark, daß, wenn bei unseren Mahlzeiten einer von uns dreien fehlte oder ein Vierter hinzukam, alles gestört war, und uns trotz unserer besonderen Liebesverhältnisse unsere Zusammenkünfte unter vier Augen weniger süß waren als unser aller Zusammensein. Was unter uns jeden Zwang verhütete, war ein großes gegenseitiges Vertrauen und was jede Langeweile verhütete, war unsere ununterbrochene Beschäftigung. Mama, die sich stets mit Plänen trug und beständig thätig war, ließ uns beide nicht müßig, und wir hatten noch für uns selbst genug zu thun, um unsere Zeit vollkommen auszufüllen. Meines Erachtens ist der Müßiggang dem geselligen Leben eben so nachtheilig wie der Einsamkeit. Nichts beschränkt den Geist mehr, nichts erzeugt mehr Nichtigkeiten, Klatschereien, üble Nachreden und Lügen als ewig in einem Zimmer einander gegenüber eingeschlossen zu sitzen, in Ermangelung jeder Arbeit gezwungen, unaufhörlich zu schwatzen. Ist jedermann beschäftigt, so redet man nur, wenn man etwas zu sagen hat; thut man jedoch nichts, so muß man durchaus beständig reden, und das ist der lästigste und gefährlichste Zwang, der sich denken läßt. Ich wage sogar noch weiter zu gehen und behaupte, daß, um einen Kreis wahrhaft angenehm zu machen, nicht allein jeder etwas thun muß, sondern auch etwas, das ein wenig Aufmerksamkeit verlangt. Filetstricken heißt nichts thun, und es gehört genau eben so viel dazu, um eine Frau, die Filet strickt, zu unterhalten, wie eine, die die Hände in den Schoos legt. Stickt sie, ist es schon etwas anderes; sie ist dann hinreichend beschäftigt, um die Ruhepausen in der Unterhaltung auszufüllen. Höchst anstößig und lächerlich ist es, wenn man sieht, wie während dieser Zeit ein Dutzend Stutzer sich erheben, sich wieder hinsetzen, auf- und abgehen, sich auf den Absätzen herumdrehen, zweihundertmal die Porzellanfiguren auf dem Kaminsimse umkehren und ihr Gehirn abarbeiten, um ihren Redestrom nicht versiegen zu lassen: eine schöne Beschäftigung! Solche Leute werden, was sie auch thun mögen, stets anderen und sich selbst zur Last sein. Als ich zu Motiers war, machte ich, wenn ich bei meinen Nachbarinnen war, Schnürsenkel; kehrte ich einmal in das Weltleben zurück, würde ich stets in meiner Tasche einen Fangbecher bei mir tragen und den ganzen Tag über damit spielen, um des Redens überhoben zu sein, wenn ich nichts zu sagen hätte. Machte es ein jeder eben so, würden die Menschen weniger boshaft, würde der Umgang mit ihnen zuverlässiger und, wie ich glaube, angenehmer werden. Kurz, mögen die Albernen, wenn sie wollen, lachen, aber ich behaupte, daß die einzige für dieses Jahrhundert passende Moral die des Fangbechers ist.
Uebrigens konnten wir beim besten Willen der Langeweile nicht ganz aus dem Wege gehen, denn der Andrang lästiger Besucher bereitete uns so große, daß uns auch für die Zeit, in der wir allein waren, noch immer einige übrig blieb. Die Ungeduld, mit der mich solche Besuche sonst erfüllt, hatte nicht abgenommen, und der ganze Unterschied bestand nur dann, daß ich weniger Zeit hatte, mich ihr hinzugeben. Die arme Mama hatte ihre alte Vorliebe für Pläne und Unternehmungen nicht verloren. Im Gegentheile, je drückender ihre häuslichen Verlegenheiten wurden, desto mehr überließ sie sich, um ihnen abzuhelfen, ihren Hirngespinsten; je geringer ihre augenblicklichen Hilfsmittel waren, desto mehr sann sie auf ihre Erhöhung für die Zukunft. Im Laufe der Jahre nahm dieser leidenschaftliche Hang bei ihr nur noch zu, und in dem Maße, wie sie das Gefallen an den Freuden der Welt und der Jugend verlor, suchte sie für dieselben durch die Freude an Geheimmitteln und Entwürfen Ersatz. Das Haus wurde nicht leer von Quacksalbern, Fabrikanten, Goldmachern, Unternehmern aller Art, die mit Millionen um sich warfen, aber schließlich aus augenblicklicher Noth um einen Thaler baten. Keiner ging bei ihr leer aus, und über nichts habe ich mich mehr gewundert, als daß sie eine so große Verschwendung so lange hat aushalten können, ohne die Quelle dazu zu erschöpfen und ihre Gläubiger zu ermüden.
Der Plan, mit dem sie sich in der Zeit, von welcher ich rede, am meisten beschäftigte, und der nicht der
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