Rousseau's Bekenntnisse
liederlich, und da eine so schlechte Bekanntschaft sie mit Besorgnis um mich erfüllte, verbot sie mir nicht allein, ihn wieder zu ihr zu führen, sondern malte mir auch die Gefahren, die ich mit diesem jungen Manne lief, mit so starken Zügen aus, daß ich im Umgange mit ihm ein wenig mehr auf meiner Hut war. Zum großen Glücke für meine Sittlichkeit und für meinen Verstand wurden wir bald getrennt.
Herr Le Maître theilte den Geschmack aller seiner Kunstgenossen; er liebte den Wein. Bei Tische war er zwar mäßig, aber bei der Arbeit in seinem Studirzimmer mußte er fleißig der Flasche zusprechen. Seine Magd wußte das so wohl, daß, sobald er sein Papier zum Componiren zurecht legte und nach seinem Violoncell griff, sein Weinkrug und sein Glas im nächsten Augenblicke ankamen und von Zeit zu Zeit ein neuer Krug erschien. Ohne sich je vollständig zu betrinken, war er fast immer angeheitert, und das war in der That Schade, denn er war sonst ein durchaus guter Mensch und so fröhlich, daß ihn Mama nur die »kleine Katze« nannte. Leider liebte er sein Talent, arbeitete viel und trank in gleicher Weise. Darunter litt seine Gesundheit und endlich seine Laune; er war bisweilen argwöhnisch und leicht zu beleidigen. Unfähig zur Unhöflichkeit, unfähig, irgend jemandem zu nahe zu treten, hat er nie, selbst seinen Chorknaben nicht, ein böses Wort gesagt; aber man durfte sich auch gegen ihn nichts zu Schulden kommen lassen, und das war recht. Das Böse dabei war, daß er aus Mangel an Geist den Ton und die Charaktere nicht zu unterscheiden wußte und oft über die geringste Kleinigkeit in Harnisch gerieth.
Das alte Domkapitel von Genf, in das eintreten zu dürfen sich ehemals so viele Fürsten und Bischöfe zur Ehre rechneten, hat in seinem Exile seinen alten Glanz verloren, aber seinen Stolz bewahrt. Als Aufnahmebedingung gilt noch immer, daß man Edelmann oder Doctor der Sorbonne sein muß, und giebt es einen verzeihlichen Stolz, so ist es nach dem, welcher sich auf persönliches Verdienst gründet, der, welcher aus der Geburt gewonnen wird. Ueberdies pflegen Geistliche, welche Laien in ihren Diensten haben, sie gewöhnlich mit ziemlichem Hochmuthe zu behandeln. So benahmen sich auch die Domherren häufig dem armen Le Maître gegenüber. Vor allem nahm der Vorsteher der Kantorei, der Abbé von Vidonne, der sonst ein sehr höflicher Mann war, aber einen zu großen Adelsstolz besaß, nicht immer die Rücksichten, welche Le Maîtres Talente verdienten, und dieser wieder ertrug solche verächtliche Behandlung nur unwillig. In diesem Jahre geriethen sie in der Charwoche bei einem herkömmlichen Gastmahle, welches der Bischof den Domherren gab und zu dem Le Maître regelmäßig eine Einladung erhielt, einen lebhafteren Wortwechsel als gewöhnlich. Der Domkantor verletzte den Anstand gegen ihn und sagte ihm irgend ein hartes Wort, welches er nicht verschmerzen konnte. Er faßte augenblicklich den Entschluß, in der folgenden Nacht zu entfliehen, und nichts konnte ihn davon abbringen, obgleich Frau von Warens, zu der er kam, um Abschied zu nehmen, nichts unversucht ließ, um ihn zu beruhigen. Er konnte nicht auf das Vergnügen verzichten, sich dadurch an seinen Tyrannen zu rächen, daß er sie mitten in der Osterzeit, in der sie ihn gerade am meisten brauchten, in der Verlegenheit ließ. Was ihn jedoch selbst in Verlegenheit setzte, war seine Notensammlung, die er mitnehmen wollte, was nicht leicht zu bewerkstelligen war. Der Kasten, in den er sie gepackt hatte, war so groß und schwer, daß man ihn nicht unter den Arm nehmen konnte.
Mama that, was ich an ihrer Stelle ebenfalls gethan hätte und noch immer thun würde. Als sie nach vielen vergeblichen Bemühungen, ihn zurückzuhalten, ihn doch zur Flucht entschlossen sah, wie es auch immer kommen möchte, erklärte sie sich bereit, ihm nach bestem Vermögen beizustehen. Ich behaupte dreist, daß sie es ihm schuldig war. Le Maître hatte sich so zu sagen ihrem Dienste geweiht. Nicht nur in Angelegenheiten seiner Kunst, sondern auch in jeder andern Beziehung kam er ritterlich allen ihren Wünschen nach, und die Freundlichkeit, mit der er ihre Befehle vollzog, gab seiner Gefälligkeit noch einen höheren Werth. Also vergalt sie einem Freunde bei einer wichtigen Gelegenheit nur das, was er seit drei oder vier Jahren im Einzelnen für sie gethan hatte; aber sie hatte eine Seele, die, um sich zur Erfüllung solcher Pflichten angetrieben zu fühlen, nicht erst dessen
Weitere Kostenlose Bücher