Rousseau's Bekenntnisse
eingedenk zu sein brauchte, daß es Pflichten für sie wären. Sie ließ mich holen und befahl mir, Herrn Le Maître wenigstens bis Lyon zu begleiten und, so lange er meiner bedürfen würde, bei ihm zu bleiben. Später hat sie mir gestanden, daß ihr Wunsch, mich von Venture zu trennen, viel dazu beigetragen hätte, mir diesen Auftrag zu ertheilen. Wegen der Fortschaffung des Kastens fragte sie ihren treuen Diener Claude Anet um Rath. Nach seiner Ansicht mußten wir unausbleiblich entdeckt werden, wenn wir in Annecy ein Saumthier nähmen; er schlug deshalb vor, bei Anbruch der Nacht den Kasten eine Strecke weit fortzutragen und daraus in einem Dorfe einen Esel zu miethen, um ihn weiter bis nach Seyssel zu schaffen, wo wir auf französischem Boden nichts mehr zu fürchten hätten. Dieser Rath wurde befolgt; wir reisten noch denselben Abend um sieben Uhr ab, und Mama verstärkte unter dem Vorwande, für meinen Unterhalt zu zahlen, die leichte Börse der armen »kleinen Katze« mit einem Zuschusse, den sie wohl gebrauchen konnte. Claude Anet, der Gärtner und ich trugen, so gut wir konnten, den Kasten bis zum ersten Dorfe, wo uns ein Esel ablöste, und noch in der nämlichen Nacht gelangten wir nach Seyssel.
Ich glaube bereits bemerkt zu haben, daß es Zeiten giebt, in denen ich mir selbst so unähnlich bin, daß man mich für einen Menschen von ganz entgegengesetztem Charakter halten könnte. Man wird sogleich ein Beispiel davon sehen. Herr Reydelet, Pfarrer von Seyssel, war Domherr von Sanct-Peter, folglich mit Herrn Le Maître bekannt und einer von den Leuten, vor denen er sich am meisten verbergen mußte. Mein Rath ging nun im Gegentheile gerade dahin, wir sollten ihm unsere Aufwartung machen und ihn unter irgend einem Vorwande, als befänden wir uns mit Wissen des Domkapitels daselbst, um Obdach bitten. Le Maître behagte dieser Einfall, der seiner Rache einen spöttischen und scherzhaften Charakter verlieh. Wir gingen also mit größter Unverschämtheit zu Herrn Reydelet, der uns sehr gut aufnahm. Le Maître sagte ihm, er ginge auf Verlangen des Bischofs nach Bellay, um daselbst am Osterfeste die Musikaufführung zu leiten, von wo er in wenigen Tagen hier wieder durchzureisen gedächte; und ich band ihm zur Bekräftigung dieser Lüge hundert andere auf, die so natürlich klangen, daß Herr Reydelet sich über den hübschen Jungen freute, mir seine ganze Freundlichkeit zuwandte und tausenderlei Aufmerksamkeiten bewies. Wir wurden gut bewirthet und gut beherbergt. Herr Reydelet wußte gar nicht, was er uns Liebes anthun sollte, und wir schieden als die besten Freunde von der Welt mit dem Versprechen, uns auf dem Rückwege länger aufzuhalten. Kaum konnten wir erwarten, bis wir allein waren, um in lautes Gelächter auszubrechen, und ich gestehe, daß ich noch immer darein verfalle, so oft ich daran denke: denn man kann sich keinen besser und glücklicher durchgeführten Streich vorstellen. Er würde uns während der ganzen Reise belustigt haben, wenn nicht Le Maître, der nicht aufhörte zu trinken und seiner Neigung nachzuleben, zwei- oder dreimal Anfälle gehabt hätte, die den epileptischen sehr ähnelten und an denen er häufig litt. Das erschreckte mich, und ich begann bald daran zu denken, wie ich mich von ihm frei machen könnte.
Wir gingen nach Bellay, um dort, wie wir es Herrn Reydelet gesagt hatten, das Osterfest zuzubringen, und obgleich wir nicht erwartet wurden, bereitete uns doch der Kapellmeister und alle Welt einen sehr freundlichen Empfang. Herr Le Maître besaß unter seinen Kunstgenossen großes Ansehen und verdiente es. Der Kapellmeister von Bellay machte sich eine Ehre daraus, seine besten Werke vorzutragen, und suchte sich die Anerkennung eines so tüchtigen Meisters zu gewinnen; denn Le Maître war nicht allein Kenner, sondern auch billig denkend, war frei von Eifersucht und ging nie auf jemandes Schaden aus. Er war all diesen Musikmeistern in der Provinz so überlegen, und sie fühlten es selbst so wohl, daß sie ihn weniger als ihren Genossen, denn als ihr Oberhaupt betrachteten.
Nachdem wir in Bellay vier oder fünf Tage sehr angenehm verlebt hatten, brachen wir wieder auf und setzten ohne irgend ein anderes Abenteuer als die bereits gemeldeten unsern Weg fort. In Lyon angekommen, nahmen wir in Notre Dame de Pitié Quartier, und bis zum Eintreffen der Notenkiste, die wir durch eine andere Lüge unter der Obhut unseres Gönners Reydelet hatten auf der Rhone einschiffen lassen, suchte Le
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